Was die Lebensqualität von Krebskranken verbessern kann – Folge 1

Dr. Angela Speth   Medizinische Nachrichten   05.02.2023

„Was kann ich selbst tun?“ lautet eine Frage, die fast alle Krebspatienten ihrem Arzt oder ihrer Ärztin stellen. Aus verständlichen Gründen: In einer Krisensituation, in der sie sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlen, möchten sie ein Stück Autonomie zurückgewinnen – Stichwort „Empowerment“. Inwieweit komplementäre Methoden zuträglich sind, haben Experten erst in einer S3-Leitlinie und jetzt in einem Zeitschriftenbeitrag zusammengestellt. Das Spektrum reicht von einer ausdrücklichen Empfehlung für Bewegung plus gesunde Kost über die Erwägung einer Ingwer-Einnahme bis zur Warnung vor Aprikosenkernen – stets vermittelt in einem wertschätzenden Gespräch.

Im Durchschnitt nutzt rund die Hälfte der Krebspatienten komplementäre oder alternative Medizin, je nach Tumorart auch wesentlich mehr, Frauen mit Brustkrebs beispielsweise zu über 90 Prozent. Das berichten Prof. Dr. Jutta Hübner von der Uniklinik Jena und ihre Kollegen. Jutta Hübner ist Expertin für Integrative Onkologie und war maßgeblich an der 2021 veröffentlichten S3-Leitlinie „Komplementäre Medizin für onkologische PatientInnen“ beteiligt.

„Mit der Leitlinie wollen wir erreichen, dass die Kollegen auch jenseits der Schulmedizin gute Antworten geben können“, hat Hübner in einem Interview erläutert. „Vereinfacht gesagt galt vor 50 Jahren die Komplementärmedizin bei Schulmedizinern noch als Teufelszeug. Heute finden es die meisten Ärzte gut, sind aber nicht immer ausreichend informiert.“

Selbständig, aber im Einvernehmen mit dem Arzt

Wie die Autoren darlegen, überschneidet sich die komplementäre Onkologie mit den Bausteinen der supportiven Behandlung, etwa Ernährungs- und Trainingstherapie, Entspannungsverfahren und psychoonkologische Begleitung. Im Unterschied dazu können die Patienten ergänzende Maßnahmen aber auf eigene Faust einsetzen, wenn auch zu ihrer Sicherheit angeleitet von einer Fachkraft und in Abstimmung mit dem Onkologen.

Eine klare Absage erteilen Hübner und ihre Mitautoren der Alternativmedizin, vor allem wenn sie die konventionelle Therapie ersetzt: Sie stütze sich auf nicht evidenzbasierte Verfahren und richte mehr Schaden als Nutzen an.

Komplementäre Medizin wird dagegen zeitgleich oder nach der etablierten Behandlung angewandt, um deren Nebenwirkungen und andere Beschwerden zu bekämpfen und die Lebensqualität zu heben. Zu den biologischen kommen psychologische Effekte: Indem die Patienten mithelfen, ihre Gesundung voranzutreiben, überwinden sie die passive Rolle und werden zu Handelnden. Diese Selbstermächtigung wiederum macht es ihnen leichter, die offizielle Therapie einzuhalten.

Ergänzende Maßnahmen verbrauchen Kraftreserven

Allerdings dürfen die Nachteile nicht verschwiegen werden: Komplementäre Methoden können Nebenwirkungen haben oder andere Strategien beeinträchtigen. Weiterhin kosten sie die Patienten und ihre Angehörigen nicht wenig an Geld, Zeit und Energie.

Die Leitlinie empfiehlt: Ärzte sollten die Patienten regelmäßig danach fragen, ob sie komplementäre und alternative Medizin nutzen.

Dafür bietet die Leitlinie einen Fragebogen an. Um das Vertrauen nicht zu gefährden, sei bei der Beratung eine wertschätzende Reaktion unerlässlich, betonen die Autoren.

Die Leitlinie empfiehlt: Ärzte sollten den Patienten zu körperlicher Aktivität raten, und zwar je nach Entität, Stadium von Erkrankung und Therapie sowie deren Nebenwirkungen.

Die Vorteile sind von allen komplementären Verfahren am besten belegt: Sport verlängert hochsignifikant das Überleben, reduziert Nebenwirkungen der Behandlung, so dass die Protokolle besser umgesetzt werden können. Nicht zuletzt lässt die Fatigue nach, die Lebensqualität steigt. Doch wo liegt das rechte Maß? Antwort der Autoren: wöchentlich 150 min moderate oder 75 min anstrengende Aktivität. Diese generelle Vorgabe der WHO gelte auch für Krebspatienten – sowohl während der Therapie als auch anschließend auf Dauer.

Vermeintliches Aushungern des Tumors durch Zuckerentzug

Die Leitlinie empfiehlt: Normal- und untergewichtige Patienten sollen sich nicht ketogen ernähren.

Viele Krebskranke schwörten auf kohlenhydratarme bis ketogene Diäten oder auf Fasten, berichten Hübner und ihre Mitarbeiter. Doch riskierten sie damit Defizite, besonders an Mikronährstoffen. Günstiger sei daher eine ausgewogene Kost. Alle Patienten sollten regelmäßig zur Ernährung befragt und auf Malnutrition untersucht werden. Zum Beispiel können Übergewichtige, die abgenommen haben, mangelernährt sein, selbst wenn sie immer noch zu viel wiegen.https://link.springer.com/article/10.1007/s00108-022-01452-3

Die Leitlinie empfiehlt: Wird Selen substituiert, ist es sinnvoll, den Spiegel zuvor und währenddessen in Blut und Serum zu bestimmen.

Da organische Selenpräparate im Körper gut gespeichert werden und damit leicht zu einer Überdosierung führen, wird in Deutschland vorwiegend das anorganische Natriumselenit eingesetzt. Zwei Studien zeigen für diese Form einen Schutz vor oraler Mukositis bei Bestrahlung von Kopf-Hals-Tumoren und vor Diarrhö bei gynäkologischen Karzinomen.

Die Leitlinie empfiehlt außerdem: Eine Zinksupplementation kann zur Prävention der radiogenen oropharyngealen Mukositis erwogen werden.

Hübner und ire Kollegen äußern sich eher vorsichtig, weil Studien zu Zink gegen strahleninduzierte Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut widersprüchlich endeten. Auch mildert es weder die Mukositis nach Chemotherapie, noch Geschmacksstörungen oder Mundtrockenheit.

Vorsicht vor unkontrollierter Vitaminzufuhr

Die Leitlinie empfiehlt: Die Spiegel von 25-OH-Vitamin-D sollten gemessen werden.

Bis zu 50% der Bevölkerung in Deutschland weisen einen Mangel auf. Dabei geht eine gute Vitamin D-Versorgung mit einer geringeren Tumor-Inzidenz einher, Krebspatienten haben eine bessere Prognose, und für viele ist eine Substitution auch relevant zur Verringerung eines erhöhten Osteoporose-Risikos, etwa bei antihormonellen Therapien gegen Brust- oder Prostatakrebs.

Die Leitlinie empfiehlt: Patienten sollten während einer Chemo- oder Strahlentherapie keine Antioxidanzien einnehmen.

Begründung: Nicht nur brachten In-vitro- und In-vivo-Tests enttäuschende Resultate, sondern im Gegenteil war die Rezidivrate bei Brustkrebspatientinnen in 2 großen Beobachtungsstudien deutlich erhöht und die Prognose schlechter. Auch die häufig praktizierten Infusionen von hochdosiertem Vitamin C haben sich nicht bewährt.

Die Leitlinie empfiehlt: Bei nachgewiesenem Mangel ist eine Substitution erforderlich.

Dagegen ist die häufige Anwendung in der Absicht, die durch Zytostatika bedingte Polyneuropathie zu verringern, nur unzureichend durch Daten gestützt, ebenso beim Vitamin B6. Einige Arbeiten beschreiben sogar eine Assoziation zwischen hohen Vitamin-B12-Spiegeln und einem verkürzten Überleben.

Die Leitlinie empfiehlt: Besteht kein Mangel, sollte keine Zufuhr erfolgen.

Bei einer Pemetrexedtherapie allerdings könnte eine Indikation vorliegen – wenn auch zu hohe Spiegel möglicherweise kritisch sind.

Heilpflanzen von Granatapfel bis Weihrauch

Die Leitlinie empfiehlt: Ingwer kann zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese erwogen werden.

15 randomisierte Studien – nicht alle jedoch standardgerecht – und 2 Reviews fanden eine Verminderung von Übelkeit und Erbrechen bei einer Chemotherapie. Zurückhaltung ist trotzdem angebracht, weil man nicht weiß, ob es zu Wechselwirkungen mit klassischen Mitteln gegen Übelkeit und Erbrechen (Neurokinin-1-Rezeptor-Antagonisten) kommt.

Boswellia serrata: Viele Patienten mit Hirntumoren erkundigen sich nach Weihrauchpräparaten. Eine kleine Studie zeigte eine signifikante Ödemminderung.

Cimicifuga racemosa: Ein Traubensilberkerzenextrakt verringerte bei Frauen mit Brustkrebs geringfügig menopausale Symptome wie Hitzewallungen unter endokriner Therapie. Da es sich nicht um eine phytoöstrogene Wirkung handelt, ist eine Einnahme möglich.

Salbeiextrakt ist eine Option bei antiandrogener Therapie.

Granatapfelextrakt: Patienten mit Prostatakrebs fragen häufig danach, berichten die Autoren. Der Grund für das Interesse: In zwei – allerdings nur kleinen und kurzen – Studien wurde ein PSA-Anstieg abgebremst.

Johanniskrautpräparate: Nachweislich mildern sie leichte bis mittelschwere Depressionen ebenso gut wie konventionelle Medikamente. Allerdings fehlen Studien mit Krebspatienten. Auch sind wegen der Gefahr von Wechselwirkungen Zubereitungen mit hohem Hyperforin-Gehalt zu vermeiden.

Mistel – umstrittenes Vorzeigeprodukt der Anthroposophen

Die Leitlinie empfiehlt: Bei soliden Tumoren kann Viscum album L. subkutan zur Verbesserung der Lebensqualität erwogen werden.

Ob Mistelextrakte das Überleben verlängern, lässt sich nicht sicher beurteilen. Zudem gelten Melanome, Leukämien, Lymphome, Hirntumoren und -metastasen als Kontraindikationen. Im Gegensatz zu den meisten anthroposophischen Untersuchungen fanden andere Studien schwere Neben- und Wechselwirkungen. Einzelfälle von anaphylaktischen Reaktionen erregen den Verdacht, dass die Extrakte gegen Onkologika überempfindlich machen, indem sie das Immunsystem stimulieren.

Sekundäre Pflanzenstoffe

Die Leitlinie empfiehlt: Es ist günstiger, sekundäre Pflanzenstoffe nicht in Form von Nahrungsergänzungsmitteln einzunehmen, sondern nach der 5-am-Tag-Regel drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Obst zu verzehren.

Auf sekundäre Pflanzenstoffe greifen ebenfalls viele Krebspatienten zurück, erläutern Hübner und ihre Kollegen. Zwar hemmen diese Substanzen in vitro biochemische Vorgänge in Tumorzellen, doch in klinischen Studien sind Effekte unzureichend belegt. Die Bioverfügbarkeit ist meist sehr gering, viele sind starke Antioxidanzien, höhere Dosierungen können zu Nebenwirkungen wie Bauchbeschwerden oder Schlafstörungen führen.

Blausäure – nicht bloß ein leeres Versprechen, sondern ein Gift

Die Leitlinie warnt vor dem cyanogenen Glycosid Amygdalin, seiner halbsynthetischen Variante Laetrile (Laevo-Mandelsäurenitril-β-glucuronid), die auch unter dem Phantasienamen „Vitamin B17“ kursiert, sowie den ebenfalls Blausäure-haltigen Aprikosenkernen. Naheliegender Grund: lebensbedrohliche Vergiftungen durch die freigesetzte Blausäure, ohne fundierten Nachweis eines positiven Effekts.

Yoga, Tai Chi und Qigong

Die Leitlinie empfiehlt: Yoga kann zur Verbesserung der Lebensqualität bei Brustkrebs-Patientinnen erwogen werden. Zur Senkung von Fatigue sollten Ärzte es allen Krebspatienten empfehlen.

Gerade Brustkrebs-Patientinnen sind sehr an diesen Bewegungsformen interessiert. Doch ist der therapeutische Effekt trotz zahlreicher Studien schwer zu beurteilen, günstig wäre jedenfalls, wenn die körperlichen neben den meditativen Übungen nicht zu kurz kämen. Eindeutig erwiesen ist jedoch, dass die Fatigue unabhängig von der Tumorart zurückgeht.