Anke Brodmerkel
In der kürzlich in JAMA veröffentlichten US-Studie SPINE CARE (Medscapeberichtete) haben sich 2 konservative Verfahren zur Behandlung akuter und subakuter Rücken- oder Nackenschmerzen als wirksam erwiesen: Die biopsychosoziale Intervention „Identify, Coordinate, and Enhance“, kurz ICE, sowie eine individualisierte Haltungstherapie [1].
Prof. Dr. René Schmidt, Leiter der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), Vorstandsmitglied der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft (DWG) und Chefarzt am Orthopädisch-Unfallchirurgischen Zentrum der Alb Fils Kliniken in Göppingen, erläutert im Gespräch mit Medscape, welche vergleichbaren Methoden es hierzulande gibt und worauf es bei der Behandlung von Rücken- und Nackenbeschwerden ganz besonders ankommt.
Medscape: Herr Professor Schmidt, wodurch zeichnen sich die in der Studie SPINE CARE untersuchten Verfahren aus?
Schmidt: Für die ICE-Methode wurden die Patienten zunächst mithilfe eines standardisierten Fragebogens, der nicht nur auf die Schmerzen an sich, sondern auch auf psychische Aspekte eingeht, in 3 Risikogruppen eingeteilt: In eine mit niedrigem, eine mit mittlerem und eine mit hohem Risiko dafür, dass die Schmerzen chronisch werden. Alle Probanden bekamen einen Physiotherapeuten zur Seite gestellt, der ihnen spezielle Übungen zeigte, sowie einen Gesundheitscoach, der sie dazu animierte, aktiv zu werden.
Patienten mit niedrigem Risiko bekamen von beiden Therapeuten je eine Sitzung, solche mit mittlerem bis hohem Risiko je 3. Darüber hinaus erhielten die behandelnden Ärzte der Hochrisikopatienten einen Coaching-Termin mit einem Facharzt, der sie zum Beispiel darüber beriet, welche weitere Diagnostik womöglich sinnvoll sein könnte – ob etwa eine Röntgen- oder Kernspinuntersuchung veranlasst werden sollte.
Die individualisierte Haltungstherapie wurde nach der Egoscue-Methode vorgenommen, die in etwa vergleichbar ist mit Pilates, der McKenzie-Methode oder dem Kieser-Training. Es handelt sich dabei um ein Trainingsprogramm, das besonderes Augenmerk auf die Körpersymmetrie legt, also darauf, dass zum Beispiel die Schultern und die Knie symmetrisch zueinander stehen.
Dabei erlernt der Patient Übungen, die er zunächst unter Anleitung – in der Studie waren es 8 wöchentliche Sitzungen – und später eigenständig zu Hause, im Idealfall täglich, durchführt. Eine klassische muskelstärkende Übung wäre zum Beispiel der Superman, bei der man auf dem Bauch liegt und Arme und Beine gleichzeitig nach vorne und hinten gestreckt vom Boden abhebt.
Medscape: Die US-amerikanische Egoscue-Methode ist auch in Deutschland inzwischen bekannt, wenn auch bei weitem nicht so verbreitet wie die anderen von Ihnen genannten Trainingskonzepte, die teilweise auch von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden. Wird das ICE-Verfahren, das in der Studie angewendet wurde, hierzulande ebenfalls angeboten?
Schmidt: Diese Maßnahme wurde ja übergeordnet organisiert. Etwas Gleiches gibt es, soweit ich weiß, in Deutschland nicht. Allerdings gibt es hierzulande Kliniken mit speziellen multimodalen Programmen, in denen verschiedene Fachärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und Gesundheitscoachs den Patienten gemeinsam betreuen und einen Behandlungsplan erstellen.
Auch in diesen Programmen wird der Patient vor allem dazu angehalten, seine Übungen über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig und selbstständig auszuführen und begleitende erschwerende Faktoren wie zum Beispiel psychische Belastungen zu eruieren. Aus der aktuellen Studie wurden Kliniken mit solchen Programmen ausgeschlossen.
Medscape: Für wie aussagekräftig halten Sie die Ergebnisse der Studie?
Schmidt: SPINE CARE ist ja nicht die erste Studie, die sich mit dem Thema Rücken- und Nackenschmerzen befasst. Es hat bereits einige kleinere, aber auch größere Untersuchungen gegeben, deren Ergebnisse – wie es ja fast immer in der Medizin der Fall ist – leider ein bisschen divergierend waren. Im Großen und Ganzen aber decken sich die jetzt gefundenen Ergebnisse mit denen aus früheren Studien: Sie alle zeigen, wie wichtig es ist, dass der Patient aktiv wird und selbst etwas gegen seine Beschwerden unternimmt.
Alle (Studien) zeigen, wie wichtig es ist, dass der Patient aktiv wird und selbst etwas gegen seine Beschwerden unternimmt. Prof. Dr. René Schmidt
Ein paar Schwächen hat die aktuelle Studie allerdings. Zum Beispiel wurde eine Cluster-Randomisierung gewählt, bei der sich herausstellte, dass die Unterschiede zwischen den 3 Gruppen doch recht groß waren. In der Gruppe, die nur die Standardversorgung erhielt, waren unter anderem deutlich mehr Patienten mit einem niedrigen sozioökonomischen Hintergrund und auch mehr Raucher als in den beiden Interventionsgruppen. Von diesen Menschen wissen wir aber, dass ihre Beschwerden sehr viel schneller chronifizieren und auch länger anhalten. Somit könnten die Effekte der untersuchten Interventionen vielleicht etwas kleiner sein, als es die Studie nahelegt.
Medscape: Welche Behandlungen haben sich hierzulande bewährt?
Schmidt: Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Zunächst einmal ist es oft schwierig, die Beschwerden überhaupt richtig einzuordnen. Rund 80% aller Rückenpatienten leiden an sogenannten nicht-spezifischen Kreuzschmerzen. Das heißt, sie haben ein funktionelles Problem, etwa durch eine muskuläre Überforderung, die oft von psychischen Belastungen begleitet ist. Bei ihnen lässt sich aber keine einzelne spezifische Ursache, wie zum Beispiel ein Wirbelbruch oder eine Entzündung der Wirbelsäule ausmachen.
Entscheidend ist, dass man sich als behandelnder Arzt immer wieder fragt, um welche Art von Rückenschmerzen es sich handelt. Prof. Dr. René Schmidt
Natürlich gibt es auch Graubereiche, etwa eine Blockade in der Wirbelsäule, die zwar gelöst werden kann, oft aber nicht als solche erkannt wird – weshalb die Beschwerden des Patienten dann fälschlicherweise als nicht-spezifische Schmerzen eingestuft werden.
Daneben spielt der zeitliche Aspekt eine wichtige Rolle. Bei akuten Schmerzen ist es oft am wichtigsten, dass man dem Patienten – wenn keine Warnhinweise vorliegen – versichert, dass die Beschwerden in aller Regel von allein wieder verschwinden und auch nicht schlimm sind. Und dass man ihn dazu animiert, seinen Alltag wie gewohnt zu verbringen, also so gut es geht in Bewegung zu bleiben.
In der subakuten Phase, wenn die Schmerzen also schon länger als 6 Wochen, aber noch kein halbes Jahr lang bestehen, profitieren die Patienten meist gut von aktiven Maßnahmen. Da gibt es wie gesagt verschiedene Ansätze, die auch alle recht gut abschneiden. Gezeigt hat sich, dass ein aktives Trainingsprogramm in jedem Fall besser ist als eher passive Maßnahmen wie Stretching oder gar Massagen.
Medscape: Und was rät man Patienten, deren Schmerzen bereits chronisch geworden sind?
Schmidt: Bestehen die Beschwerden schon länger als 6 Monate, werden neben den aktiven noch weitere Maßnahmen wichtig, die zum Beispiel auch psychologische Aspekte verstärkt berücksichtigen. In diesen Fällen können Verhaltenstherapien hilfreich sein, die den Patienten dabei unterstützen, mit alten rückenschädlichen Verhaltensmustern zu brechen und neue positive Gewohnheiten zu entwickeln.
Grundsätzlich sollten Schmerzmittel bei akuten und subakuten Beschwerden immer nur zeitlich begrenzt eingenommen werden. Prof. Dr. René Schmidt
Auch Maßnahmen zur Stressreduktion, etwa bei Trauer oder beruflicher Überforderung, haben sich bewährt. Hilfreich sind hier unter anderem die progressive Muskelrelaxation, die körperliche und psychische Komponenten enthält, oder auch autogenes Training. In Einzelfällen können auch Akupunktur oder eine manuelle Therapie sinnvoll sein. Entscheidend ist, dass man sich als behandelnder Arzt immer wieder fragt, um welche Art von Rückenschmerzen es sich handelt, wie lange diese schon bestehen und ob es außerhalb des Rückens weitere Probleme gibt. Nur dann kann man seinen Patienten die richtigen Maßnahmen empfehlen.
Medscape: Wie lässt sich zum Beispiel eine Entzündung im Rücken, also ein spezifischer Schmerz, herausfinden?
Schmidt: Dieser tritt anders als der nicht-spezifische Kreuzschmerz vor allem bei Ruhe beziehungsweise nachts auf. Zudem kann er von anderen Symptomen, wie man sie auch von Infektionen kennt, also von Fieber oder allgemeinem Unwohlsein, begleitet sein.
Medscape: Welche Rolle spielen Schmerzmittel in der Behandlung von Rücken- und Nackenbeschwerden?
Schmidt: Grundsätzlich sollten Schmerzmittel bei akuten und subakuten Beschwerden immer nur zeitlich begrenzt eingenommen werden. Etabliert haben sich hier insbesondere die nicht-steroidalen Antirheumatika wie Ibuprofen oder Diclofenac in kurzer und geringer Dosierung. Wer diese nicht verträgt, kann ersatzweise Metamizol einnehmen. Chronische Schmerzen werden oft auch mit Opioiden behandelt, dies sollte aber nur unter der regelmäßigen Kontrolle eines in der Schmerzmedizin erfahrenen Arztes erfolgen.
Im Prinzip müssen sowohl die Ärzte als auch die Therapeuten ihren Patienten Hilfe zur Selbsthilfe geben. Prof. Dr. René Schmidt
Bei spezifischen Beschwerden mit klarer, lokal begrenzter Ursache, etwa bei einem Bandscheibenvorfall, können auch Spritzen mit schmerzstillenden und entzündungslindernden Wirkstoffen zum Einsatz kommen. Bei nicht-spezifischen Beschwerden ist deren Verwendung hingegen nicht zu empfehlen, da man gar nicht wissen kann, an welcher Stelle die Spritze zu setzen wäre.
Medscape: Welche der genannten Maßnahmen werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen?
Schmidt: Die Kassen zahlen sämtliche vom Arzt verordneten Medikamente und bezuschussen in der Regel auch die muskelkräftigenden Therapien im Rahmen ihrer Präventionsprogramme. Hier müsste sich der Patient bei seiner Kasse erkundigen, welche Programme sie im Angebot hat. Auch die multimodalen Ansätze inklusive einer psychologischen Begleitung für die Patienten mit chronischen Beschwerden sind durch die Kassen prinzipiell abgedeckt. Gleiches gilt bei entsprechender Indikation für die Spritzentherapie. Allerdings kann es teilweise schwierig sein, für die multimodalen Programme Termine zu bekommen.
Medscape: Was wäre Ihrer Meinung nach die beste Strategie, um den Patienten bestmöglich zu helfen, ohne das Gesundheitssystem zu sehr zu belasten?
Schmidt: Man muss ganz klar sagen, dass der nicht-spezifische Kreuzschmerz von den Patienten Eigeninitiative fordert. Es ist keine Erkrankung, die allein von außen wegtherapiert werden kann. Massagen zum Beispiel, so angenehm sie auch sein mögen, können sogar einen negativen Effekt haben. Auch Kofaktoren wie Übergewicht müssen angegangen werden.
Hier zeigt sich ebenfalls das Problem, dass zwar Unterstützung zum Gewichtsabbau notwendig ist, ohne Eigeninitiative und den Wunsch des Patienten ein Erfolg jedoch eigentlich nicht zu erzielen ist. Im Prinzip müssen sowohl die Ärzte als auch die Therapeuten ihren Patienten Hilfe zur Selbsthilfe geben. Eine gute Orientierung dabei liefern die existierenden Leitlinien, in denen die nachweislich wirksamen Maßnahmen aufgelistet sind.
Die Therapieempfehlung muss also immer individuell auf den Patienten abgestimmt sein. Prof. Dr. René Schmidt
Bildgebende Verfahren sollten nur bei einer entsprechenden Indikation zum Einsatz kommen: zeitnah bei spezifischen Beschwerden, bei nicht-spezifischen erst, wenn sich die Symptome nach 4 bis 6 Wochen nicht gebessert haben. Dann sollte der Patient eine adäquate Diagnostik erhalten und einem Facharzt vorgestellt werden, um sicherzugehen, dass man keine spezifische Ursache übersehen hat. Bei Patienten, die in ihrer Alltagsmobilität stark eingeschränkt oder wegen ihrer Schmerzen nicht arbeitsfähig sind, kann dies auch schon eher erforderlich sein.
Medscape: Welche Übungen oder Verhaltensweisen können die Ärzte ihren Patienten empfehlen, die diese leicht eigenständig ausführen beziehungsweise einnehmen können?
Schmidt: Hier muss man ein bisschen differenzieren. Für Patienten, die niemals Sport getrieben haben, vielleicht auch schon ein paar Gelenkprobleme haben oder leicht adipös sind, kann es ein erster wichtiger Schritt sein, regelmäßig walken zu gehen, sowohl mit als auch ohne Stöcke. Für alle anderen ist ein zusätzliches Muskelaufbautraining unbedingt zu empfehlen. Sinnvoll ist hier auch der Einsatz von Gewichten oder Trainingsbändern.
Auch Yoga verhilft zu mehr Beweglichkeit und stärkeren Muskeln. Übungen wie der vorhin von mir beschriebene Superman oder auch Planks sind zwar zur Kräftigung des Rückens hervorragend geeignet, können aber gar nicht von allen Patienten ausgeführt werden. Diese Übungen setzen ein gewisses Maß an Beweglich- und Sportlichkeit bereits voraus. Die Therapieempfehlung muss also immer individuell auf den Patienten abgestimmt sein.
Medscape: Wie finden die Patienten am ehesten Zugang zu solchen Übungen?
Schmidt: Es gibt ja inzwischen sehr viele Bücher, Apps und Online-Kurse, mit denen die Übungen erlernt werden können. Man kann also auch wunderbar zu Hause trainieren. Wichtig ist, dass der Patient ein Programm findet, dass ihm zumindest ein bisschen Spaß macht. Denn ohne den wird er vermutlich nicht bei der Stange bleiben. Und eines ist ganz klar: Nur wenn die Übungen über einen längeren Zeitraum hinweg und mit einer gewissen Regelmäßigkeit absolviert werden, sind sie effektiv.