Das Westdeutsche Protonentherapiezentrum (WPE) in Essen hat im Mai seinen zehnjährigen klinischen Betrieb gefeiert. Auch für Prostatakrebspatienten kann die Protonentherapie eine Option sein. Kompakt Urologie (KU) fragte Prof. Beate Timmermann, Direktorin und Ärztliche Leiterin des WPE, über die genauen Umstände.
KU: In welchen Fällen kommt eine Protonentherapie bei Prostatakrebs infrage?
Timmermann: Grundsätzlich kann die Protonentherapie alles behandeln, was die konventionelle Strahlentherapie mit Photonen in der intensitätsmodulierten Radiotherapie (IMRT) kann. Zur Anwendung kommt eine intensitätsmodulierte Protonentherapie zumeist in moderater akzelerierter Hypofraktionierung und kann bei den folgenden Indikationen zum Einsatz kommen:
- lokal begrenztes Prostatakarzinom aller Risikogruppen
- lokal fortgeschrittenes Prostatakarzinom mit Indikation zur adjuvanten Bestrahlung des pelvinen Lymphabstromgebietes
- lokal fortgeschrittenes Prostatakarzinom mit gleichzeitiger Bestrahlung einiger weniger Metastasen
- PSA-Rezidiv nach operativer Entfernung der Prostata mit oder ohne Nachweis eines erneuten Tumorwachstums in der Positronenemissions-/Computertomographie mit dem Prostataspezifischen Antigen (PSMA) als Zielstruktur (PSMA-PET-CT/MRT).
KU: Welche Vorteile hat die Protonentherapie gegenüber den üblichen Therapien (Prostatektomie, externe Bestrahlung, Brachytherapie, ggf. Aktive Überwachung)?
Timmermann: Dauerhafte oder vorübergehende Nebenwirkungen einer Prostataoperation können der Verlust der Erektionsfähigkeit oder Inkontinenz sein. Dies tritt nach einer präzisen Strahlentherapie sehr viel seltener oder gar nicht auf. Zudem hat sich herausgestellt, dass die Heilungschancen umso größer sind, je höher die individuelle Strahlendosis ausfällt. Dadurch erhöht sich aber auch das Risiko für Nebenwirkungen, denn in der Nähe der Prostata liegen besonders sensible Körperregionen mit zwei wichtigen Organen: dem Enddarm und der Blase. Zudem wird auch die Harnröhre zwangsläufig mitbestrahlt.
Die physikalischen Eigenschaften von Protonen ermöglichen es, dass diese tiefer in das erkrankte Gewebe eindringen können und sich dort zielgenau abstoppen lassen. Auf dem Weg zum Ziel geben sie nur sehr wenig Strahlendosis an das umliegende Gewebe ab. Herkömmliche Strahlenbehandlungen arbeiten meist im Gegensatz dazu mit hochenergetischen Röntgenstrahlen. Diese zeigen ihre größte Wirkung einige Zentimeter unterhalb der Hautoberfläche und werden mit zunehmender Tiefe schwächer.
Am WPE nutzen wir die fortschrittlichste Art der Protonentherapie – das Bleistiftstrahlverfahren oder auch „Pencil Beam Scanning“. Bei dieser Technik bestrahlen wir Prostatakarzinome mit einem bleistiftspitzendünnen Strahl, der Punkt für Punkt über den gesamten dreidimensionalen Raum des Tumors gesteuert wird. So wird sehr gezielt das erkrankte Gewebe bestrahlt. Reizungen von Blase oder Enddarm können dadurch vermieden werden.
KU: Gibt es auch Nachteile gegenüber diesen Methoden, z.B. Nebenwirkungen?
Timmermann: Nachteile gegenüber anderen Strahlentherapie-Arten gibt es eigentlich nicht. Rein logistisch kann es natürlich aber einen erhöhten Aufwand bedeuten, wenn man ortsfern an einer der wenigen Protonenanlagen in Deutschland behandelt wird. Zu beachten ist aber, dass es bestimmte Prostatakarzinome gibt, für die eine Operation, Hormontherapie, Chemotherapie oder Immuntherapie zunächst zwingend angezeigt ist. Daher sollte immer eine individuelle und interdisziplinäre Entscheidung zusammen mit der Urologie, gegebenenfalls auch einem internistischen Onkologen getroffen werden.
KU: In der Pressemitteilung zum 10-jährigen Jubiläum heißt es: „Bei der Behandlung von Prostatakarzinomen können Beeinträchtigungen der Funktion von Blase oder Enddarm vermieden werden und so zu einer größeren Lebensqualität führen. Nach ersten Analysen scheint die Protonentherapie nach der Bestrahlung auch eine bessere sexuelle Funktion zu ermöglichen als andere Therapiemethoden.“ Welche Studien belegen dies?
Timmermann: Die Effektivität und Sicherheit der Protonentherapie hat sich bereits in vielen verschiedenen Studien gezeigt. Die Verträglichkeit der Protonentherapie scheint für Blase und Darm während der Bestrahlung der Photonenbehandlung überlegen zu sein. Spätfolgen an Darm und Blase sind aber aktuell noch schwer zu bewerten, die Erfahrungen sind da teilweise widersprüchlich. Die veröffentlichten Daten beziehen sich häufig auch auf inzwischen überholte Bestrahlungstechniken (Wu et al, 2022). Die Sexualfunktion scheint jedoch ungeachtet dessen besser geschont zu werden. In einer größeren Analyse wurde eine Verschlechterung der Sexualfunktion 3 Jahre nach Bestrahlung mit Protonen nur bei 28,6 Prozent der Patienten beobachtet. Nach einer Photonentherapie hingegen wurde das häufiger beobachtet, nämlich bei 34,3 Prozent der Patienten (Pan et al., 2018). Klinische Daten zur innovativen Pencil Beam Scanning Technik, die am WPE durchgeführt wird, existieren noch nicht. Das Potenzial dieser Technik besteht in der Applikation einer intensitätsmodulierten Technik, mit dem Ziel, umliegendes Gewebe maximal vor Nebenwirkungen zu bewahren bei gleichzeitiger Gabe der höchstmöglichen tumorkontrollierenden Dosis. Planungsstudien aus dem WPE zeigen eine optimale Schonung mit dieser Technik (Ahmad Khalil et al. 2022) und lassen einen Vorteil in der Schonung von Darm, Blase und Sexualfunktion erwarten. Um Auswertungen durchführen zu können, führt das WPE alle Patienten in einem Register. Die ersten Erfahrungen zeigen eine gute Verträglichkeit nach der Bestrahlung mit nur wenigen Nebenwirkungen.
Aktuell läuft im WPE eine Studie zur moderat hypofraktionierten Bestrahlung – die HypoPros-Studie. Die höhere Einzeldosis steigert dabei die Wirksamkeit jeder einzelnen Bestrahlung. Statt wie bisher 2 Gray (Gy) je Protonenbestrahlung in 39 Sitzungen, applizieren wir im Rahmen der Studie in 20 Sitzungen je 3 Gy. Hierdurch lässt sich die Behandlungsdauer von 8 auf 4 Wochen verkürzen. Bei zu erwartender gleicher Wirksamkeit und unverändertem Nebenwirkungsprofil bedeutet dies für Patienten ein deutliches Plus an Lebensqualität. Das Studienziel ist es, das Auftreten von Nebenwirkungen im gastrointestinalen und urogenitalen Bereich detailliert zu analysieren. Bei den ersten Patienten zeigte sich bisher eine sehr gute Verträglichkeit.
KU: Wie kommt ein Patient zu einer Protonentherapie? Wird er vom Urologen überwiesen?
Timmermann: Eine Überweisung durch den behandelnden Urologen oder die behandelnde Urologin ist von Vorteil. Allerdings können sich auch Patienten direkt an uns wenden. Der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin oder der Patient selbst richtet zuallererst eine Therapieanfrage an uns. Wir haben hierfür eine Checkliste erstellt, damit direkt bei Anfrage alle für die Prüfung erforderlichen Unterlagen vorliegen.
Unser Case-Management-Team nimmt die Anfrage dann entgegen und leitet diese zusammen mit den Unterlagen umgehend an unser Ärzte-Team weiter. Dieses entscheidet, ob die Protonentherapie in diesem Fall sinnvoll ist. Die Anfrage wird auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen relevanten Fachdisziplinen im Uro-Onkologie-Tumorboard der Universitätsmedizin Essen besprochen.
Für die Prüfung, ob eine Protonentherapie in Frage kommt, benötigen wir folgende Dokumente:
- den PSA-Wert
- den Histologiebefund
- radiologische Befunde
- alternativ einen zusammenfassenden Arztbericht.
KU: Wie läuft das Verfahren praktisch ab?
Timmermann: Sollten sich das Expertenteam und der Patient für die Behandlung mit der Protonentherapie entscheiden, beginnt die Therapieplanung. Hierfür werden oftmals zunächst Goldmarker eingesetzt. Dies geschieht in der Urologie der Universitätsmedizin Essen. Anschließend beginnt die Vorbereitung der Protonentherapie mit folgenden Schritten:
- Anfertigung einer individuellen Lagerungshilfe, damit der Tumor in jeder Bestrahlungssitzung exakt gleich mit den Protonen bestrahlt werden kann,
- Nutzung bildgebender Verfahren, wie beispielsweise CT und gegebenenfalls auch MRT, damit unser ärztliches Team und die Medizinphysiker und -physikerinnen die genaue Lage des Tumors und der umliegenden Organe beurteilen können.
Nach der Planung und Qualitätssicherung beginnt 1-2 Wochen später die tägliche Protonentherapie. Die Sitzungen finden ambulant statt und gehen im Rahmen der Studien über einen Zeitraum von etwa 4Wochen. Die einzelne Strahlenbehandlung dauert dabei meist nicht länger als eine halbe Stunde, wobei die eigentliche Protonenbestrahlung sogar nur wenige Minuten in Anspruch nimmt.
KU: Übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen und die privaten Krankenversicherungen die Behandlung, oder muss die Behandlung privat bezahlt werden? Gibt es bei Übernahme eine Patientenbeteiligung?
Timmermann: Das WPE hat mit vielen großen gesetzlichen und einer privaten Krankenkasse Vereinbarungen geschlossen, die eine Übernahme der Kosten vorsieht. Die Patienten müssen dann keinen Eigenanteil tragen. Bei den sonstigen Krankenkassen werden individuelle Kostenübernahmeanträge durch unser Case-Management erstellt, welches den Patienten auch bei den Übernahmeanträgen zur Seite steht.
KU: Frau Prof. Timmermann, vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Markus Schmitz.