Weshalb das Lebensende unnötig hinausgezögert wird

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Friedlich zu Hause sterben – das wünscht sich ein Großteil der Menschen für sich selbst. Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen auch in Deutschland weit auseinander. Zu oft kommt es am Lebensende zu einer Überversorgung, die den Tod hinauszögert. Forscher aus den USA sehen auf Basis eines neu entwickelten Verhaltensmodells eine wesentliche Rolle in Familiendynamiken und den Emotionen der Behandler.

Bisherige Analysen haben meist die Behandlungspräferenzen der Patienten am Ende des Lebens in den Vordergrund gestellt. Das neue Modell, das von seinen Urhebern als Transtheoretisches Modell des irrationalen biomedizinischen Überschwangs (Transtheoretical Model of Irrational Biomedical Exuberance, TRIBE) bezeichnet wurde, konzentriert sich ganz auf die Psychologie des Arztes und die Familiendynamik. Publiziert ist es im Fachmagazin „Social Science & Medicine“.

„Die alten Modelle gingen davon aus, dass Ärzte rein rationale Akteure sind, die ihre Patienten zu logischen Entscheidungen führen“, beschreibt der US-Amerikaner Paul R. Duberstein, Hauptautor der Studie und Vorsitzender der Abteilung für Gesundheitsverhalten, Gesellschaft und Politik an der Rutgers School of Public Health den früheren Ansatz. Sobald Ärzte jedoch eine Behandlung oder ein Verfahren empfohlen haben, so Duberstein, bestünde ein enormer Druck auf die Patienten, sich dieser Behandlung zu unterziehen.

Das TRIBE-Modell kombiniert zwei ältere Theorien – die sozioemotionale Selektivitätstheorie und die Terror-Management-Theorie – um zu erklären, warum dies geschieht. Auf diese Weise soll es zeigen, wie emotionaler Druck auf Ärzte und komplexe Familiendynamiken übermäßige Anstrengungen zur Heilung unheilbarer Krankheiten hervorrufen.

„Dieses Modell berücksichtigt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Ärzte wie alle Menschen emotionale Wesen sind, und dass diese Emotionen die Entscheidungen ihrer Patienten stark beeinflussen“, erläutert der Psychologe und Gerontologe Duberstein. „Ärzte geben ihre Patienten nur ungern auf und empfehlen daher oft Behandlungen mit sehr geringen Erfolgsaussichten. Das wird sich nicht ändern, solange wir die medizinische Ausbildung und die Kultur des irrationalen biomedizinischen Überschwangs nicht verbessern.“

Der Begriff „Irrationaler Überschwang“ wurde vom Ökonom Alan Greenspan verwendet, um die Stimmung unter den Anlegern im Vorfeld des Dot-Com-Crashes zu beschreiben, der sich im Jahr 2000 ereignete und vor allem in Industrieländern zu Vermögensverlusten für Kleinanleger führte. Laut Duberstein und seinen Kollegen betrifft der Begriff aber Ärzte und Patienten schon lange genauso wie die Wall Street. Sie würden von „One-in-a-Million“-Heilungen lesen und irrationalerweise glauben, dass sie oder ihre Patienten diese „One-in-a-Million“ sein könnten – so wie Menschen, die Lotterielose kaufen, glauben, dass sie die glücklichen Gewinner sein werden.

Der Hinweis auf die Irrationalität ihrer Entscheidung würde Ärzte allerdings genauso wenig wie Lottospieler beeinflussen, erklären die Forscher. Sie glauben sogar, dass er Ärzte weniger tangiert, weil der Kampf um die Erhaltung des Lebens im Gegensatz zum Glücksspiel – das oft als Laster dargestellt wird – in der Regel als Tugend gilt. Die Motive für die Verschreibung von Langzeitbehandlungen seien edel – den Tod zu vermeiden, ein Leben zu retten, „alles zu tun, was wir können“, „einen Kampf zu führen“ und „niemals aufzugeben“. In dieser Sichtweise sei die Nichtverschreibung von Langzeitbehandlungen gleichbedeutend mit der Aufgabe von Patienten – und für die Patienten gleichbedeutend mit dem im Stich lassen von Angehörigen.

Basierend darauf fordern die Autoren neue Ansätze für die klinische Versorgung und die Aufklärung der Öffentlichkeit, welche sich mit den Emotionen befassen, die nutzlose Behandlungen am Ende des Lebens auslösen. „In gewisser Weise ist jeder Tod eines Patienten eine potenzielle Quelle der Scham für Ärzte und eine Quelle der Schuld für die Hinterbliebenen“, sagt Duberstein. „Indem wir die Kultur der medizinischen Ausbildung und die breitere kulturelle Einstellung zum Tod ändern, können wir die Emotionen und die Familiendynamik ansprechen, die zu viele Patienten davon abgehalten haben, in ihren letzten Lebenstagen und -wochen eine qualitativ hochwertige Versorgung zu erhalten.“

(ah)

 Über

Duberstein PR et al. The TRIBE model: How socioemotional processes fuel end-of-life treatment in the United States. Soc Sci Med 2023 Jan;317:115546.

 Quelle

Rutgers University, 17.01.2023