Psychoonkologie: auch eine Herausforderung – Folge 2

Dr. Angela Speth   Medizinische Nachrichten   12.02.2023

„Jetzt ist alles aus, jetzt werde ich sterben.“ „Schlagartig war meine ganze Welt auf den Kopf gedreht.“ „Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen.“ So beschreiben Menschen ihre Gedanken und Gefühle, wenn sie von einer Krebsdiagnose förmlich überrollt werden. Und selbst nach einer erfolgreichen Therapie hängt über ihrem Leben das viel zitierte Damoklesschwert. Insofern ist wenig erstaunlich, dass ein Drittel der Patienten eine behandlungsbedürftige psychische Störung entwickelt. Die Psychoonkologie übernimmt die Aufgabe, sie sowohl in akuten Krisen als auch langfristig bei Ängsten oder Depressionen aufzufangen. Das gelingt mit Methoden, die demnächst auch in der neuen Fassung einer S3-Leitlinie vorgestellt werden.

Nach Schätzungen leben in Deutschland 4,5 Millionen Menschen mit oder nach einer Krebserkrankung, und ihre Zahl wird steigen, erläutern Dr. Angela Grigelat, niedergelassene Psychotherapeutin in München, und Dr. Friederike Mumm, Leiterin der Psycho-Onkologie am Klinikum der dortigen Universität. Diese Menschen müssen immense Herausforderungen meistern: zu Beginn den Schrecken der Diagnose, die strapaziöse Behandlung und oft auch körperliche Versehrtheit, zum Beispiel durch eine Amputation.

Danach gehören sie, wenn sie Glück haben, zu den Langzeitüberlebenden (survivor), sind aber oft mit gravierenden Folgen konfrontiert, darunter Behinderungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten und Bestrahlung: endokrinen Störungen wie Hypophysitis, Schilddrüsen-Fehlfunktionen oder dem Immuneffektorzell-assoziierten Neurotoxizitätssyndrom.

Angst vor einer Rückkehr des Tumors

Die körperlichen Komorbiditäten erhöhen die Anfälligkeit für psychische und soziale Probleme: Schlafstörungen, Fatigue, kognitive Defiziten, Veränderungen von Körperwahrnehmung, Sexualität und Fertilität, Schwierigkeiten in Beruf und Familie, finanzielle Sorgen. All das untergräbt die Lebensqualität, die Rehabilitation und gesundheitsbewusstes Verhalten.

So ist zu erklären, dass 17 Prozent der Überlebenden noch 5 Jahre nach der Diagnose an Depressionen und Ängsten leiden, nach 10 Jahren noch neun Prozent. Typisch ist die Angst vor einem Wiederauftreten oder Fortschreiten der Erkrankung. Hinzu kommt eine nicht geringe Zahl ehemaliger Krebspatienten mit Symptomen unterhalb der klinischen Schwelle (subsyndromaler Distress).

Paradigmenwechsel im Lauf der 1990er Jahre

Dessen ungeachtet waren noch bis in die 1990er Jahre alle Kräfte dem „war on cancer“ gewidmet, dem Kampf um bessere Überlebenschancen. Sich um psychosoziale Bedürfnisse zu kümmern, schien ein überflüssiger Luxus, rekapitulieren die Autorinnen.

Allmählich jedoch begann die Schulmedizin, ganzheitlicher nicht nur den Körper, sondern auch die Seele zu behandeln. In dieser Strömung etablierte sich die klinische und wissenschaftliche Psychoonkologie, die helfen will, das aus den Fugen geratene Leben nicht bloß irgendwie durchzustehen, sondern zu akzeptieren.

Psychische Probleme haben die Tabuzone verlassen

Den Wendepunkt markiert auch eine S3-Leitlinie, die 2014 erstmals erschien und demnächst in einer neuen Version veröffentlicht wird. Als Konsultationsfassung „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten“ liegt sie noch bis zum 12. Februar bereit – mit der Einladung an Fachleute, Patienten und andere Interessierte, Verbesserungen vorzuschlagen.

Der Wandel spiegelt sich in der Einstellung der Patienten wider: Immer weniger empfanden sie psychische und soziale Unterstützung als stigmatisierend, sondern erkundigten sich danach. Heute gestalten sie meist ihre Behandlung mit, informieren sich, treffen Entscheidungen, sprechen mit den Ärzten und tarieren Intensität, Risiken und Nutzen der Therapie mit ihrer Lebensqualität aus. 

Wie erkennt man, wer Bedarf hat?

Dennoch habe es sich nicht bewährt, die Indikation für eine psychoonkologische Intervention nur dann zu stellen, wenn das klinische Bild dazu Anlass gibt oder die Patienten selbst den Wunsch äußern, so die Erfahrung von Grigelat und Mumm. Denn nicht alle sprechen offen darüber, was sie durchmachen. Daher empfehlen die Psychologinnen, die Patienten regelmäßig nach ihrem Befinden zu fragen, zudem in Warte- und Therapiebereichen Flyer auszulegen. Als Test eignet sich das einfache und dennoch aussagekräftige „Distress Thermometer“, ergänzt eventuell um die Erfassung weiterer Patient-Reported Outcomes (PROMs).

Das Screening erleichtert das Arztgespräch und die Auswahl eines geeigneten Programms, das möglichst auch die Angehörigen einbezieht. Eine Hürde bleibt weiterhin, dass manche Menschen, sogar wenn sie sich sehr elend fühlen, Hilfe anfangs oft ablehnen, vor allem Ältere, Männer, Patienten, die in schlechter körperlicher Verfassung sind oder alles ablehnen, was mit Psychologie und Coping-Strategien zu tun hat.

Psychoonkologische Interventionen

Klassische Indikationen sind akute Notlagen, etwa nach Mitteilung des Tumorbefunds oder bei folgenreichen Eingriffen. Hinzu kommen längerfristige Anpassungsstörungen wie Depressivität, Angst, Schlaflosigkeit, hohe Anspannung, Grübeln über Konflikte, Misserfolge und Fehler. Weitere Anlässe sind körperliche Beschwerden wie Schmerzen.

Angebote gibt es in unterschiedlichen Settings: Akutkliniken, Reha-, Palliativ- und ambulanten Einrichtungen. Mehrere Berufsgruppen sind beteiligt – Mediziner, Psychologen, Sozialpädagogen, kreative Therapeuten mit Zusatzausbildung – und sie kombinieren die klassischen Verhaltens- oder tiefenpsychologischen Therapien mit onkologisch ausgerichteten Ansätzen.

Psychoedukative Angebote

Psychoedukation klärt über die Krankheit, deren Ursachen und Folgen auf, motiviert zu Sport und ausgewogener Ernährung. Auch kann sie die Patienten von Missverständnissen entlasten, etwa dass Angst, Trauer oder Stress den Ausbruch von Krebs fördern. Weiterhin helfen „Onko-Lotsen“ den Patienten, sich im medizinischen Dschungel zu orientieren, bereiten sie auf das vor, was ihnen bevorsteht, informieren sie über Beratungsstellen, Gesundheits-Apps, Internetportale und Patientenorganisationen. 

Kognitive Verhaltenstherapie

Fast alle in der Onkologie bedeutsamen psychischen Symptome lassen sich mit Verhaltenstherapie mildern, ob Schockzustände, Schmerzen, Übelkeit, Fatigue, Angst oder Übererregtheit. Die Patienten lernen zum Beispiel, negative Kognitionen zu verändern, unangenehme Emotionen leichter zu tolerieren und ihre Stimmung zu beeinflussen. In der Akutphase sind symptomorientierte Interventionen geeignet, mit Komponenten wie Imagination, Entspannung, Achtsamkeit oder Hypnose.

Systemische Konzepte

Beratung und Psychotherapie mit Familien und Paaren gehören gemäß den Leitlinien zu den psychoonkologischen Kernaufgaben, da Angehörige den Krebspatienten beistehen müssen, jedoch oft selbst ähnlich niedergedrückt und überfordert sind.

Sinnbasierte Interventionen

Diese Ansätze sind besonders für die Palliativ-Situation gedacht. Sie erschließen den Patienten Spielräume, in denen sie trotz ihres Leidens oder eingeschränkter Lebensperspektive Sinnfragen stellen können. Sie bekommen die Möglichkeit, über das eigene Leben, sich selbst und die Beziehung zu anderen nachzudenken, die bisherigen Ansichten, Ziele und Werte zu überprüfen und ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Nachweislich werden so Demoralisierung, Gefühle von Sinnlosigkeit, Verzweiflung, Angst und Depressivität abgebaut.

Digitale Gesundheitsanwendungen.

Auf Lerntheorien basierende Anwendungen gehen psychoedukativ gegen ein bestimmtes Symptom vor, etwa Traurigkeit, Schlafstörungen, Substanzmissbrauch, Adipositas oder die Angst vor einer Tumorprogression. Sie bestehen aus Modulen, arbeiten interaktiv und können psychotherapeutische Live-Kontakten ergänzen.

Das weite Feld der psychoonkologischen Versorgung

Der Nationale Krebsplan, 2008 initiiert vom Gesundheitsministerium gemeinsam mit onkologischen Organisationen, enthält als zentrale Empfehlung, dass „alle Krebspatienten bei Bedarf eine angemessene psychoonkologische Versorgung erhalten“.

Verschiedene Einrichtungen stehen bereit. In onkologischen Zentren und Spitzenzentren (Comprehensive Cancer Center, CCC) sind psychoonkologische Angebote Qualitätsmerkmal und Voraussetzung für die Zertifizierung. In der Rehabilitation sind sie für Einzelne und Gruppen ein fester Bestandteil.

Die ambulante Versorgung wird überwiegend von niedergelassenen Psychotherapeuten mit entsprechender Weiterbildung geleistet, außerdem von psychosozialen Krebsberatungsstellen, die seit 2020 von den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen gefördert werden, seit September 2021 zu 80%. Onkologische Praxen haben nur selten die Kapazität, jeden Patienten zeitnah psychologisch zu betreuen. Wichtige Anlaufstellen sind aber Hochschulambulanzen und palliativmedizinische Dienste.

Trotz dieses Spektrums bestehen sogenannte „unmet needs“ (unerfüllte Bedürfnisse). Daher ist es nach Ansicht von Grigelat und Mumm erforderlich, die Sprechstunden auszubauen und dabei spezielle Gruppen zu berücksichtigen: Heranwachsende, junge Erwachsene, Langzeitüberlebende, Kinder krebskranker Eltern, Senioren. Weiterhin müssten stationäre Leistungen besser finanziert werden, denn im Diagnosis-Related-Groups-System seien sie unzureichend abgebildet.