Palliativversorgung im finalen Tumorstadium: Sinnvolle Strategien für die Versorgung im Delir

Dtsch Arztebl 2022; 119(48): [12]; DOI: 10.3238/PersOnko.2022.12.02.02

Gärtner, Jan; Gahr, Susanne; Reinholz, Ulrike; Kunz, Roland; Jentschke, Elisabeth; Roch, Carmen

Patientinnen und Patienten in fortgeschrittenen und vor allem in finalen Tumorstadien entwickeln häufig delirante Zustände. Neben der Prävention und Beseitigung von möglichen Ursachen steht oft auch die Frage einer medikamentösen Sofortintervention im Raum.

Foto: Jakub Krechowicz / stock.adobe.com

In einer amerikanischen Untersuchung wiesen mehr als 40 % der Patientinnen und Patienten mit einem fortgeschrittenen Tumorstadium, die notfallmäßig in eine Klinik eingeliefert wurden, ein Delir auf. Weitere 30 % entwickelten ein Delir im Verlauf der palliativen Betreuung. Das Auftreten eines Delirs war mit einer ebenso schlechten Prognose assoziiert wie Pneumonie oder Peritonitis (1). Auch in der Palliativsituation ist neben der Behandlung der akuten psychiatrischen Symptomatik die Beseitigung möglicher Ursachen eine wesentliche ärztliche Maßnahme.

Das Delir bezeichnet kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ist vielmehr ein Symptomkomplex („umbrella construct“), also ein Syndrom (delirantes Syndrom) (2) mit einer sehr heterogenen Störung der ZNS-Funktion unterschiedlicher Ätiologie. Es präsentiert sich meist durch eine akute Aufmerksamkeitsstörung, die oft mit motorischer Unruhe (hyperaktives Delir) oder Apathie (hypoaktives Delir) einhergeht (2). In der Onkologie zeigt das Auftreten einer deliranten Bewusstseinsstörung häufig eine lebensbedrohliche Situation an und ist für die Patientinnen und Patienten, ihr soziales Umfeld sowie die behandelnden Teams mit großen Belastungen verbunden (345). In der Palliativsituation bei einer schweren, fortgeschrittenen und zum Tode führenden Erkrankung verursacht ein Delir zusätzlichen Ressourcenaufwand (6). Ein besonders hohes Risiko für die Entwicklung eines Delirs besteht bei multimorbiden, hochbetagten und dementen Erkrankten.

Zur Diagnostik des Delirs bei gefährdeten Patientinnen und Patienten ist ein regelmäßiges, einfach umzusetzendes Screening empfehlenswert, abhängig von vorbestehenden Risikofaktoren, das wenig zeitliche Ressourcen beansprucht (78

8.

Geriatric Medicine Research Collaborative: Improving delirium screening and recognition in UK hospitals: results of a multi-centre quality improvement project. Age Ageing. 2022; 51 CrossRef MEDLINE PubMed Central). In der Praxis eignet sich hierfür unter anderem die Nursing Delirium Screening Scale (siehe Tabelle). Einvernehmen besteht zudem, dass der Prävention und nichtpharmakologischen Maßnahmen absoluter Vorrang vor medikamentösen Interventionen zu geben ist (7), auch wenn dafür für Patientinnen und Patienten in der Langzeitpflege bisher nicht ausreichend Studien zur Effektivität vorliegen (9).

Zu den wesentlichen präventiven Maßnahmen speziell in der onkologischen Betreuung gehören
adäquates Schmerzmanagement,
Vermeidung von Störungen des Nachtschlafs (medizinische Kontrollen, Pflege, Intensivpflege)
Mobilisierungen, soweit möglich,
adäquate Behandlung von Komorbiditäten,
Vermeiden sozialer Deprivation,
ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz. Besonderes Augenmerk ist vor allem auch auf die
Reduktion freiheitsbeschränkender Maßnahmen (z. B. Bettgitter) und Fremdkörper (z. B. Katheter, i.v.-Leitungen) zu achten, um den Patientinnen und Patienten eine möglichst große Bewegungsfreiheit zu ermöglichen und Trigger eines Delirs zu reduzieren. Um das Sturz- und Verletzungsrisiko zu minimieren, sind Niederflurbetten sinnvoll und eine Pflege der Patientinnen und Patienten in Bodennähe.
Als tumorassoziierte Ursachen für delirante Zustände kommen in Betracht (10)
Tumoren und Metastasen im ZNS und neoplastische Meningeosen, Enzephalitis,
zerebrale Erkrankungen wie Embolie, Infarkt, Blutung, Mikroangiopathie et cetera,
metabolische Störungen wie Hyperkalzämie, Tumorlyse, Tumorkachexie,
paraneoplastische Syndrome,
Endorganversagen,
Neben- und Nachwirkungen einer operativen Therapie,
Nebenwirkungen einer radiologischen Therapie (Leukenzephalopathie, Strahlennekrose),
Nebenwirkungen einer systemischen Therapie (z. B. mit Immuntherapie assoziierte Enzephalitis).
Auch moderne immunologische Therapieansätze und antiangiogenetische Substanzen können bei entsprechender Prädisposition ein Delir auslösen oder unterhalten, ebenso Antihistaminika, Anticholinergika, Kortikoide, Benzodiazepine und Opioide (11).
Deshalb sehen Handlungsempfehlungen vor, dass abhängig von der Krankheitsphase eine adäquate Diagnostik bezüglich potenziell behandelbarer Auslöser erfolgen und diese behandelt werden sollen. Allenfalls in der Sterbephase kann Zurückhaltung geboten sein (10121314).
Im Gegensatz zu den genannten, meist einvernehmlich gehandhabten Aspekten von Prävention, Diagnostik und Bevorzugung nichtmedikamentöser Maßnahmen in der Behandlung der Symptome des Delirs bestehen bezüglich des Einsatzes von Neuroleptika und Benzodiazepinen uneinheitliche Praxis und uneinheitliche Standards (15). Beispielhaft sei die von vielen Autoren sehr zurückhaltende Dosierung von Haloperidol im hyperaktiven Delir genannt: Viele Kliniker beginnen mit 1 mg p. o./d (15), während andere Gruppen selbst unter Studienbedingungen für die gleiche Indikation mit 8 oder 12 mg Tagesdosis starten und eine mögliche Steigerung bis 30 mg/d zulassen (5). Andere Autoren wiederum lehnen die Gabe von Neuroleptika in dieser Indikation sogar gänzlich ab, solange keine Halluzinationen oder Wahnideen vorliegen (18). Dass es diesbezüglich unterschiedliche Auslegungen gibt, zeigt die Tatsache, dass Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) in einem Input zu diesem Thema schon im Titel auf das Dilemma hinweisen („Im Spannungsfeld zwischen Leitlinienempfehlungen und Versorgungspraxis“) (17). Diese Erfahrung haben auch wir im Rahmen von Vorarbeiten zum Thema Delir gemacht (1819).
Ziel des Reviews – einfache und gut begründete Behandlungsvorschläge
Aufgrund der beschriebenen unterschiedlichen Behandlungspraxen und unterschiedlichster Lesarten der verfügbaren Studien, möchten die Autorinnen und Autoren des hier vorgelegten Beitrags bei ärztlichen Kolleginnen potenzielle Unsicherheiten bezüglich der Indikation medikamentöser Therapien mit Neuroleptika und Benzodiazepinen im Rahmen des Delirs bei Palliativpatientinnen und -patienten vermindern. Dies soll durch konkrete, einfache und gut begründete Behandlungsvorschläge erfolgen.
Neuroleptika – beim Delir immer off-label
Bis dato besteht für kein im Handel verfügbares Neuroleptikum eine Zulassung zur Therapie des Delirs. Es ist unstrittig, dass Neuroleptika, insbesondere bei älteren und dementen Patientinnen und Patienten sehr häufig und oft nicht indikationsgemäß verabreicht werden (20). Sie werden fälschlicherweise als Sedativa oder Anxiolytika eingesetzt, ohne Anzeichen einer psychiatrischen Plussymptomatik (1320212223). Die Wahrnehmung auch in der Öffentlichkeit ist, dass viele Patientinnen und Patienten unnötig ruhiggestellt werden (24). Des Weiteren werden Neuroleptika immer noch von einigen Ärztinnen und Ärzten zur Prophylaxe oder Therapie des Delirs eingesetzt, obwohl in Metaanalysen von 19 Studien keinerlei Wirkung auf Dauer und Schweregrad des Delirs, die Länge der Hospitalisation oder eine Reduktion der Mortalität berichtet werden konnte (72526). Die Verwendung in einigen Studien war sogar mit einer erhöhten Mortalität verbunden (27). Zudem ist die Gabe von Neuroleptika mit potenziellen Nebenwirkungen verbunden (schwere Herzrhythmusstörungen, belastende extrapyramidale Symptome). Ein Trugschluss wäre es jedoch, auf die Gabe von Neuroleptika im Rahmen des Delirs gänzlich zu verzichten. Zwar sollten Neuroleptika weder prophylaktisch noch zur Therapie des Delirs oder der Desorientiertheit an sich eingesetzt werden, wohl aber zur Behandlung von Symptomen wie Wahn, Halluzinationen und Agitation. Jedoch besteht auch diesbezüglich keine Einigkeit (1527). Die randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) von Agar et al. (27) ist eine der wenigen und vermutlich die bekannteste, meistzitierte Studie aus der Palliativmedizin zu diesem Thema. Sie ist zurzeit die zentrale Publikation, wenn es um evidenzbasierte Diskussionen geht (19). Eine der Stärken der Studie ist, dass sie multizentrisch an einem Kollektiv von palliativen Patientinnen und Patienten unterschiedlicher Grunderkrankungen durchgeführt wurde und nicht, wie häufig in der Palliativmedizin, nur Tumorpatientinnen und -patienten einschließt (27). Die Autorinnen und Autoren untersuchten die Wirkung von Haloperidol und Risperidon in einem dreiarmigen Studiendesign, verglichen mit Placebo. Die Arbeitsgruppe betont, dass die Neuroleptika nicht gegen das Delir an sich gegeben wurden, dies wäre nicht indiziert und nicht zielführend. Stattdessen wurden die Medikamente gegen bestimmte Symptome gegeben wie Halluzinationen. Vor Therapiebeginn mussten standardisierte nichtmedikamentöse Maßnahmen ohne Erfolg geblieben sein. Explizit wurden die Neuroleptika nicht gegen Desorientiertheit gegeben. Dies sollte auch eine wichtige Handlungsempfehlung für die Praxis sein. Die Hauptergebnisse der Studie waren, dass die Medikamente nicht besser, sondern im Gegenteil sogar schlechter wirkten als das Placebo und gleichzeitig die Mortalität erhöhten. Die Studienergebnisse wurden von Teilen der Fachpresse so interpretiert, dass „Neuroleptika beim Delir in der Palliativmedizin nicht eingesetzt werden dürfen“ (28). Diese Aussage lässt sich unserer Ansicht nach nicht mittragen. Dies hat folgende Gründe:
Die Symptomlast der Patientinnen und Patienten war niedrig. Der Baseline Score nach der Nursing Delirium Screening Scale (Nu-DESC) war im Schnitt nur 2,5. Die Placebogruppe weist im Mittel zu Studienbeginn einen MDAS von 15 auf, also nur 2 Punkte oberhalb des Benchmarks, der für die Delirdiagnose herangezogen wird (Sensitivität: 70,6 %) (3). In der wichtigen Studie von Hui et al. (29, siehe unten), lag der MDAS im Mittel bei etwa 30. Der Spontanverlauf des Delirs in der Placebogruppe, gemessen an der MDAS, wies nach 3 Tagen einen deutlichen Rückgang von 15 auf 10 auf, also 3 Punkte unterhalb des Delir-Cut-off. Anzumerken ist auch, dass beim Einsatz von Haloperidol und Risperidon mit eher niedrigen Dosen gearbeitet wurde (27): 0,5 mg Loading Dose zusammen mit der Erstgabe von 0,5 mg, weitere Gaben zu 0,5 mg alle 12 Stunden, mit der Möglichkeit, diese an Tag 1 um 0,25 mg und danach um 0,5 mg bis zu einem Maximum von 4 mg/d zu erhöhen (Patientinnen und Patienten über 65 Jahre erhielten halbierte Loading Dose, Erstgabe und Maximaldosis). Die Studiendauer betrug nur 72 Stunden, Medikamente wie Levomepromazin oder Quetiapin finden keine Erwähnung.
Zwischen den therapeutischen Polen „Neuroleptika beim Delir nie einsetzen“ (2728) und „Neuroleptika beim hyperaktiven Delir regelhaft einsetzen“ (15) schlagen wir die in Kasten 1 zusammengefasste Handlungsempfehlung vor, in Anlehnung an die Empfehlungen des National Clinical Guideline Centers (14).

Unstrittig ist, dass Benzodiazepine delirogen sein können, und vor allem bei älteren Patientinnen und Patienten und solchen mit Delir-prädisponierenden Faktoren äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, da sie das Delir an sich nicht verbessern (33).

Benzodiazepine sind delirogen und verbessern Delirsymptomatik nicht

Die randomisierte Studie des MD Anderson Centers zur Gabe von Lorazepam versus Placebo ist die wichtigste Referenz zu diesem Thema in der Palliative Care (29). Das Autorenteam konnte zeigen, dass unter der Gabe von Lorazepam die Agitation der Patientinnen und Patienten verglichen zu Placebo nach 8 Stunden signifikant und relevant abgenommen hatte. Allerdings sollten aus dieser Studie keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Es ist vor allem zu beachten, dass auch bei Hui et al. (29) relativ mild symptomatische Patientinnen und Patienten (RASS im Mittel 1,5) einbezogen wurden. Es kann also hinterfragt werden, ob die Intervention überhaupt angemessen war. Dies gilt auch für die Wahl der Dosis, denn die Patientinnen und Patienten der Verumgruppe erhielten eine verhältnismäßig hohe Dosis von 3 mg Lorazepam i. v. in jeder Episode von Agitation. Außerdem erhielten sowohl die Placebo- als auch die Lorazepam-Patientinnen und -Patienten mindestens 8 mg Haloperidol/d i. v. als Basismedikation. Dies ist ein Dosisbereich und eine Kombination, wie sie in der Praxis in Mitteleuropa eher selten vorkommt und für geriatrische Patientinnen und Patienten als unangemessen anzusehen ist (17). Deutlich wird dies auch im Verlauf der RASS-Skala, denn Lorazepam führte im Schnitt zu einer Reduktion von über 4 Punkten. Der RASS-Score lag in der Interventionsgruppe nach der Lorazepamgabe im Schnitt bei −2,5. Dies ist ein Wert, den man als Sedierung bezeichnen kann. Unabhängig davon war zwischen Placebo und Lorazepam kein Unterschied in der Wirkung auf die delirbedingten Belastungen der Patientinnen und Patienten zu erkennen. Wir schlagen daher die in Kasten 2 niedergelegte Handlungsempfehlung zum Einsatz von Benzodiazepinen vor.

Fazit für die Praxis

  • Bei der Betreuung deliranter Patientinnen und Patienten haben nichtmedikamentöse Maßnahmen unter Einbeziehung und Anleitung von Angehörigen immer Vorrang.
  • Bezüglich der Indikationsstellung für die medikamentöse Therapie mit Neuroleptika und Benzodiazepinen sollten die Ergebnisse der verfügbaren Studien kritisch auf ihre Transferierbarkeit in den klinischen Alltag geprüft werden.
  • Der Einsatz von Benzodiazepinen und Neuroleptika sollte immer kritisch überdacht und bei übermäßigem Einsatz eine Dosisreduktion oder auch ein Absetzen erwogen und angestrebt werden.
  • Primäres Ziel der medikamentösen Therapie darf keinesfalls die ruhiggestellte, sedierte oder aufgrund von extrapyramidalen Nebenwirkungen hypomotorische und ohne großen Aufwand zu pflegende Patientin oder Patient sein.
  • Andererseits dürfen Studienergebnisse nicht derart missverstanden werden, dass Patientinnen und Patienten, die durch Symptome wie Halluzinationen, Agitation, Wahn, Angst sehr belastet sind, eine medikamentöse Linderung vorenthalten wird.
  • Wir hoffen, mit unseren Empfehlungen einen alltagsnahen Orientierungsrahmen gegeben zu haben, der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen Sicherheit und den Patientinnen und Patienten bestmögliche Linderung ihrer Symptome unter Minimierung der Risiken der medikamentösen Therapie ermöglicht.

DOI: 10.3238/PersOnko.2022.12.02.02

Prof. Dr. med. Jan Gärtner

Palliativzentrum Hildegard und Medizinische Fakultät Universität Basel

Priv.-Doz. Dr. med. Susanne Gahr

Palliativmedizinische Abteilung, Comprehensive Cancer Center CCC Erlangen-EMN, Universitätsklinikum Erlangen; Koordinationsstelle der AG Palliativmedizin im Netzwerk der Deutschen Comprehensive Cancer Center

Dr. med. Ulrike Reinholz

Interdisziplinäre Abteilung für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Mainz

Dr. med. Roland Kunz

Geriatrische Abteilung, Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden, Herisau, Schweiz

Dr. phil. Elisabeth Jentschke

Interdisziplinäres Zentrum Palliativmedizin, Universitätsklinikum Würzburg

Dr. med. Carmen Roch

Interdisziplinäres Zentrum Palliativmedizin, Universitätsklinikum Würzburg