Patientinnen und Patienten in fortgeschrittenen und vor allem in finalen Tumorstadien entwickeln häufig delirante Zustände. Neben der Prävention und Beseitigung von möglichen Ursachen steht oft auch die Frage einer medikamentösen Sofortintervention im Raum.
In einer amerikanischen Untersuchung wiesen mehr als 40 % der Patientinnen und Patienten mit einem fortgeschrittenen Tumorstadium, die notfallmäßig in eine Klinik eingeliefert wurden, ein Delir auf. Weitere 30 % entwickelten ein Delir im Verlauf der palliativen Betreuung. Das Auftreten eines Delirs war mit einer ebenso schlechten Prognose assoziiert wie Pneumonie oder Peritonitis (1). Auch in der Palliativsituation ist neben der Behandlung der akuten psychiatrischen Symptomatik die Beseitigung möglicher Ursachen eine wesentliche ärztliche Maßnahme.
Das Delir bezeichnet kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ist vielmehr ein Symptomkomplex („umbrella construct“), also ein Syndrom (delirantes Syndrom) (2) mit einer sehr heterogenen Störung der ZNS-Funktion unterschiedlicher Ätiologie. Es präsentiert sich meist durch eine akute Aufmerksamkeitsstörung, die oft mit motorischer Unruhe (hyperaktives Delir) oder Apathie (hypoaktives Delir) einhergeht (2). In der Onkologie zeigt das Auftreten einer deliranten Bewusstseinsstörung häufig eine lebensbedrohliche Situation an und ist für die Patientinnen und Patienten, ihr soziales Umfeld sowie die behandelnden Teams mit großen Belastungen verbunden (3, 4, 5). In der Palliativsituation bei einer schweren, fortgeschrittenen und zum Tode führenden Erkrankung verursacht ein Delir zusätzlichen Ressourcenaufwand (6). Ein besonders hohes Risiko für die Entwicklung eines Delirs besteht bei multimorbiden, hochbetagten und dementen Erkrankten.
Zur Diagnostik des Delirs bei gefährdeten Patientinnen und Patienten ist ein regelmäßiges, einfach umzusetzendes Screening empfehlenswert, abhängig von vorbestehenden Risikofaktoren, das wenig zeitliche Ressourcen beansprucht (7, 8
8.
Geriatric Medicine Research Collaborative: Improving delirium screening and recognition in UK hospitals: results of a multi-centre quality improvement project. Age Ageing. 2022; 51 CrossRef MEDLINE PubMed Central). In der Praxis eignet sich hierfür unter anderem die Nursing Delirium Screening Scale (siehe Tabelle). Einvernehmen besteht zudem, dass der Prävention und nichtpharmakologischen Maßnahmen absoluter Vorrang vor medikamentösen Interventionen zu geben ist (7), auch wenn dafür für Patientinnen und Patienten in der Langzeitpflege bisher nicht ausreichend Studien zur Effektivität vorliegen (9).
Unstrittig ist, dass Benzodiazepine delirogen sein können, und vor allem bei älteren Patientinnen und Patienten und solchen mit Delir-prädisponierenden Faktoren äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, da sie das Delir an sich nicht verbessern (33).
Benzodiazepine sind delirogen und verbessern Delirsymptomatik nicht
Die randomisierte Studie des MD Anderson Centers zur Gabe von Lorazepam versus Placebo ist die wichtigste Referenz zu diesem Thema in der Palliative Care (29). Das Autorenteam konnte zeigen, dass unter der Gabe von Lorazepam die Agitation der Patientinnen und Patienten verglichen zu Placebo nach 8 Stunden signifikant und relevant abgenommen hatte. Allerdings sollten aus dieser Studie keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Es ist vor allem zu beachten, dass auch bei Hui et al. (29) relativ mild symptomatische Patientinnen und Patienten (RASS im Mittel 1,5) einbezogen wurden. Es kann also hinterfragt werden, ob die Intervention überhaupt angemessen war. Dies gilt auch für die Wahl der Dosis, denn die Patientinnen und Patienten der Verumgruppe erhielten eine verhältnismäßig hohe Dosis von 3 mg Lorazepam i. v. in jeder Episode von Agitation. Außerdem erhielten sowohl die Placebo- als auch die Lorazepam-Patientinnen und -Patienten mindestens 8 mg Haloperidol/d i. v. als Basismedikation. Dies ist ein Dosisbereich und eine Kombination, wie sie in der Praxis in Mitteleuropa eher selten vorkommt und für geriatrische Patientinnen und Patienten als unangemessen anzusehen ist (17). Deutlich wird dies auch im Verlauf der RASS-Skala, denn Lorazepam führte im Schnitt zu einer Reduktion von über 4 Punkten. Der RASS-Score lag in der Interventionsgruppe nach der Lorazepamgabe im Schnitt bei −2,5. Dies ist ein Wert, den man als Sedierung bezeichnen kann. Unabhängig davon war zwischen Placebo und Lorazepam kein Unterschied in der Wirkung auf die delirbedingten Belastungen der Patientinnen und Patienten zu erkennen. Wir schlagen daher die in Kasten 2 niedergelegte Handlungsempfehlung zum Einsatz von Benzodiazepinen vor.
Fazit für die Praxis
Bei der Betreuung deliranter Patientinnen und Patienten haben nichtmedikamentöse Maßnahmen unter Einbeziehung und Anleitung von Angehörigen immer Vorrang.
Bezüglich der Indikationsstellung für die medikamentöse Therapie mit Neuroleptika und Benzodiazepinen sollten die Ergebnisse der verfügbaren Studien kritisch auf ihre Transferierbarkeit in den klinischen Alltag geprüft werden.
Der Einsatz von Benzodiazepinen und Neuroleptika sollte immer kritisch überdacht und bei übermäßigem Einsatz eine Dosisreduktion oder auch ein Absetzen erwogen und angestrebt werden.
Primäres Ziel der medikamentösen Therapie darf keinesfalls die ruhiggestellte, sedierte oder aufgrund von extrapyramidalen Nebenwirkungen hypomotorische und ohne großen Aufwand zu pflegende Patientin oder Patient sein.
Andererseits dürfen Studienergebnisse nicht derart missverstanden werden, dass Patientinnen und Patienten, die durch Symptome wie Halluzinationen, Agitation, Wahn, Angst sehr belastet sind, eine medikamentöse Linderung vorenthalten wird.
Wir hoffen, mit unseren Empfehlungen einen alltagsnahen Orientierungsrahmen gegeben zu haben, der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen Sicherheit und den Patientinnen und Patienten bestmögliche Linderung ihrer Symptome unter Minimierung der Risiken der medikamentösen Therapie ermöglicht.
DOI: 10.3238/PersOnko.2022.12.02.02
Prof. Dr. med. Jan Gärtner
Palliativzentrum Hildegard und Medizinische Fakultät Universität Basel
Priv.-Doz. Dr. med. Susanne Gahr
Palliativmedizinische Abteilung, Comprehensive Cancer Center CCC Erlangen-EMN, Universitätsklinikum Erlangen; Koordinationsstelle der AG Palliativmedizin im Netzwerk der Deutschen Comprehensive Cancer Center
Dr. med. Ulrike Reinholz
Interdisziplinäre Abteilung für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Mainz