Krebs “geheilt” – doch die Psyche leidet oft jahrelang

  • Dr. Angela Speth Medizinische Nachrichten 11.01.2023
  • Nach einer Krebstherapie ist die akute Gefahr erst einmal gebannt, aber die psychischen Folgen von Krankheit und Behandlung bleiben oft noch jahrelang: Fatigue, Depressionen, die Angst vor einem Rezidiv, geringe Lebensqualität oder Gedächtnisschwäche. Da die Zahl der Langzeitüberlebenden durch die medizinischen Fortschritte zunimmt, ist es wichtig, sich über das Ausmaß dieser Schwierigkeiten ein Bild zu machen. Denn das liefert die Basis für Hilfsangebote, etwa Bewegungstraining, Psychotherapie oder -edukation, wie ein Experte in einem Übersichtsartikel erläutert.[1]
  • In allen westlichen Industrienationen steigt seit einigen Jahren die Krebs-Inzidenz, schreibt Prof. Dr. Joachim Weis von der Stiftungsprofessur Selbsthilfeforschung an der Universitätsklinik Freiburg. Nach Hochrechnungen des Robert-Koch-Instituts von 2019 erkranken in Deutschland jährlich etwa 500.000 Menschen. Ihre 5-Jahres-Überlebensraten haben sich in jüngster Vergangenheit deutlich erhöht, wenn auch je nach Tumorart unterschiedlich. Am günstigsten sind sie mit jeweils rund 90% bei malignen Melanomen, Lippen-, Hoden- und Prostatakrebs, während sie bei Karzinomen der Lunge, Speiseröhre oder Bauchspeicheldrüse unter 20% liegen.
  • Die Aufmerksamkeit für Langzeitüberlebende wächst
  • So kam es, dass in Deutschland 4,65 Millionen Menschen (davon 2,55 Millionen Frauen) mit oder nach einer Krebserkrankung leben (Daten für 2017). Etwa zwei Drittel gelten als Langzeitüberlebende, das heißt: Die Krebsdiagnose liegt mehr als 5 Jahre zurück. Doch hallt der Schock bei den meisten Menschen über viele Jahre oder gar lebenslang nach, viele verlieren das Gefühl körperlicher Integrität und Unversehrtheit, die einen empfinden Trauer und Verlust, andere hadern mit dem ungerechten Schicksal. Nicht wenige müssen wegen Handicaps oder langwieriger Therapien lieb gewordene Gewohnheiten aufgeben, müssen nach dem Zerbrechen des bisherigen Lebensentwurfs neue Ziele finden.
  • Daher haben die Erfolge der High-Tech-Medizin eine Kehrseite: nämlich körperliche und psychosoziale Probleme. Sie rücken mehr und mehr sind in den Fokus der Wissenschaft, stets mit dem Anliegen, diesen Menschen durch eine Behandlung zu unterstützen und damit auch die hohen Kosten zu senken, die direkt durch häufige Konsultation von Gesundheitsdiensten oder indirekt durch Arbeitsausfälle und vorzeitige Berentung entstehen. Seit 2007 widmet sich eine internationale Fachzeitschrift Journal of Cancer Survivorship diesem Thema. Speziell in Deutschland hat das Bundesministerium für Gesundheit 2018 die Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ (AG LONKO) eingerichtet.
  • Tumorassoziierte Fatigue verschont fast keinen
  • Eine der häufigsten Beschwerden ehemaliger Krebspatienten ist eine anhaltende Erschöpfung, die sich durch Ausruhen oder Schlaf kaum bessert. Während oder unmittelbar nach der onkologischen Behandlung leiden fast alle Patienten daran, langfristig liegt die Prävalenz zwischen 20% und 50%. Fatigue kann jederzeit nach der Diagnose auftreten, entweder als Folge der Erkrankung oder deren Therapie, vor allem Stammzelltransplantationen. Die Ursachen sind unklar, doch wird eine maladaptive Krankheitsverarbeitung diskutiert, Modellrechnungen ergaben eine Assoziation zu Depressionen. Körperlich zeigen sich Leistungseinbußen, emotional Antriebs- und Interessenlosigkeit, kognitiv Konzentrationsschwierigkeiten und schlechtes Kurzzeitgedächtnis. In Studien berichten Langzeitüberlebende mit Fatigue über eine deutlich verminderte Lebensqualität.
  • Angst und Depression – verständliche Reaktionen
  • Ebenfalls weit verbreitete psychische Langzeitfolgen sind Angst und Depression, vorwiegend in subklinischer Ausprägung. Diese über Fragebögen erfassten Reaktionen seien naheliegend, denn eine so schwere Diagnose wie Krebs konfrontiere die Patienten mit Tod und Sterben, wie Weis schreibt, zumal sich trotz kurativer Behandlung der Verlauf nie absehen lässt. Deshalb könnten sie die Bedrohung nie komplett ausblenden, selbst wenn sie nicht tagtäglich daran denken. Sie wird leicht wieder aktuell, zum Beispiel wenn ein Bekannter oder Prominenter an Krebs erkrankt, wenn ein Nachsorgetermin oder der Jahrestag der Diagnose ansteht.
  • In einer Metaanalyse mit 20 Studien und insgesamt fast 18.000 Langzeitüberlebenden nach Brust-, Prostata- oder Darmkrebs betrug die Prävalenz von Depression und Angst jeweils 21%, bestimmt meist mit der Hospital Anxiety and Depression Scale, die allgemeine psychische Belastung lag bei 7%.
  • Wie Weis erläutert, beunruhigt Langzeitüberlebende besonders die Angst vor einer Rückkehr der Erkrankung. In einem Review von 130 Studien nannten sie Rezidivangst als eine der 10 häufigsten Belastungen, zugleich erhielt diese Gruppe am wenigsten Unterstützung. Sie bleibt langfristig relativ stabil und macht vor allem Jüngeren zu schaffen. In einer Studie in Deutschland gaben zwar 82% von rund 2700 ehemaligen Brustkrebs-Patientinnen eine geringe, jedoch auch ein beträchtlicher Anteil von 11% eine moderate und 6% eine hohe Angst vor einem Rezidiv an. Im Allgemeinen scheinen Angst und Depressionen im Lauf der Zeit abzunehmen, wie ein Vergleich zweier Kohorten zeigt, die 5 und 10 Jahre nach der Diagnose untersucht wurden.
  • Gelingende Bewältigung von Trauma und Krise
  • Allerdings beobachtet die Forschung nicht nur Lebenskrisen, sondern auch ein „posttraumatisches Wachstum“ – günstige Entwicklungen, etwa eine verstärkte Sinnsuche oder sonstige Anpassungsprozesse. So berichteten in einer Studie 66% der fast 7000 Langzeitüberlebenden über moderate bis hohe positive Veränderungen und 21% über ein mäßiges bis starkes posttraumatisches Wachstum. Nach einer Brustkrebs-Diagnose war dieser Aspekt am deutlichsten, nach Darmkrebs mittel, nach Prostatakrebs am geringsten, bei Frauen und Jüngeren ausgeprägter als bei Männern und Älteren.
  • Lebensqualität: spezifische Einschränkungen
  • Die Lebensqualität umfasst außer körperlichen Symptomen auch soziale, emotionale, psychische, kognitive und Rollenfunktionen. Insgesamt ist die Lebensqualität langzeitüberlebender Krebskranker und der Allgemeinbevölkerung ähnlich, dennoch zeigen sich Defizite bei einzelnen Subgruppen und Symptomen. Das belegt eine epidemiologische Studie in Deutschland: Knapp 7000 Langzeitüberlebende 5–16 Jahre nach Diagnose einer Brust-, Darm- oder Prostatakrebs und knapp 2000 Menschen ohne Tumor-Anamnese beantworteten den Fragebogen zur Lebensqualität QLQ-C30 der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC). Trotz insgesamt gleicher Werte beider Gruppen waren bei den ehemaligen Krebs-Patienten vor allem Schlafstörungen, Fatigue sowie weitere körperliche Symptome häufiger und stärker, und zwar wiederum besonders bei jenen unter 50 Jahre.
  • Manche Studien fördern aber auch ein paradox anmutendes, jedoch bekanntes Phänomen zutage, nämlich dass Krebskranke ihre Lebensqualität teilweise sogar besser bewerten als Gesunde. Einer Hypothese zufolge liegt dem eine Verschiebung der Bewertung (Response Shift) zugrunde, die ein posttraumatisches Wachstum widerspiegelt. Drei Formen werden unterschieden:
  • Rekalibrierung: Die Maßstäbe werden verändert, Ansprüche heruntergeschraubt, zuvor noch Unerträgliches erscheint nun akzeptabel.
  • Repriorisierung: Die Bedeutung einzelner Lebensbereiche wird verschoben. So kann die Beziehung zu anderen Menschen wichtiger, die körperliche Leistungsfähigkeit unwichtiger werden.
  • Neukonzeptualisierung: Die verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität bekommen eine andere Bedeutung.
  • Neurologische Folgen: kognitive Defizite
  • Lange standen nur die neurologischen Probleme der onkologischen Therapie im Fokus, etwa die periphere Polyneuropathie  mit Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Schmerzen in Händen und Füßen oder massive Störungen des zentralen Nervensystems wie Leukenzephalopathien oder der Hirnnerven, etwa des Nervus cochlearis. Zunehmend werden auch kognitive Störungen systematisch untersucht, und zwar subjektiv über Fragebögen und objektiv über Tests. Insgesamt liegt die Prävalenz neuropsychologischer Defizite zwischen 15 und 40 Prozent.
  • Auffällig ist, dass in der Regel die subjektiv ermittelten Defizite höher sind als die objektiven; so ergab eine Studie bei Brustkrebs-Patientinnen nach Chemotherapie ein Verhältnis von mehr als 50% zu lediglich 15–25%. Als Erklärung für diese Differenz wird vermutet, dass Angst, Depression und seelische Belastung den Eindruck von Leistungsschwächen steigern.
  • Eine Übersichtsarbeit zeigt Einschränkungen vorrangig bei Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und exekutiven Funktionen. Schlechte Testwerte waren in einigen Studien mit einer Verringerung der grauen Hirnmasse sowie geringerer Hirnaktivität nach der Chemotherapie assoziiert. Deutliche Auffälligkeiten fanden sich auch für Langzeitüberlebende nach Stammzelltransplantation.
  • Fazit von Weis: Ein validiertes Screening ist ein erster Schritt, um Langzeitüberlebenden zu identifizieren, die Unterstützung benötigen. Danach folgt die Herausforderung, Angebote wie Spätrehabilitation, Beratungen oder Schulungen zu etablieren. Die Ziele lauten: Symptomlinderung, Krankheitsbewältigung und ein besserer Umgang mit Einschränkungen.