ESMO-Kongress: Lutetium-Radionuklidtherapie bei chemonaiven Prostatakrebspatienten

PSMA ist die Zielstruktur auf den Prostatakrebszellen, über welche die Radioligandentherapie funktioniert. Foto: lexiconimages – stock.adobe.com

Das Radiotherapeutikum Lutetiumvipivotidtetraxetan erreichte in einer aktuellen Studie bei Chemotherapie-naiven Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom, das positiv für das Prostataspezifische Membranantigen (PSMA) ist, ein mehr als doppelt so hohes progressionsfreies Überleben (PFS) im Vergleich zu einer zweiten Hormontherapie. Die Daten zum Gesamtüberleben (OS) sind aber widersprüchlich.Bei Lutetiumvipivotidtetraxetan (Lu-177-PSMA-617) handelt es sich um ein Molekül, welches an das auf Prostatakrebszellen häufig ausgebildete Membranprotein PSMA bindet und ein radioaktives Lutetium-Isotop enthält. Dadurch wird die Strahlung spezifisch an den Prostatakrebszellen und ihren Metastasen abgegeben. Für Patienten, die nach einer Taxan-basierten Chemotherapie einen Progress erleiden, ist es schon zugelassen. Die Studie PSMAfore prüfte nun den Einsatz des Mittels bereits vor einer Chemotherapie.Vergleich mit einer zweiten HormontherapieIn die Studie wurden Patienten mit metastasiertem kastrationsresistenten Prostatakarzinom (mCRPC) aufgenommen, die unter einer Therapie mit einem Androgenrezeptor-Signalweginhibitor (ARPI) einen Progress erlitten hatten und Kandidaten für eine zweite ARPI-Therapie waren. Sie mussten in der Positronenemissions-/Computertomographie mit dem Diagnostikum Gallium-68-PSMA-11 mindestens eine PSMA-positive Läsion aufweisen und durften keine ausschließenden PSMA–negativen Läsionen haben. Nicht zugelassen waren Kandidaten für eine Therapie mit einem Inhibitor der Poly-ADP-Ribose-Polymerase (PARP) und Patienten mit vorheriger systemischer Strahlentherapie (vor <6 Monaten), Immuntherapie (außer Sipuleucel-T) oder Chemotherapie (außer [neo]adjuvanter Therapie vor >12 Monaten).Die Randomisierung erfolgte 1:1 zu offen verabreichtem Lutetiumvipivotidtetraxetan (7,4 GBq alle 6 Wochen; 6 Zyklen) oder ARPI-Änderung (Abirateron/Enzalutamid). Zu ARPI randomisierte Patienten konnten nach zentral überprüfter radiologischer Progression (rPD) auf das Radiotherapeutikum umsteigen (Cross-over). Primärer Endpunkt war das radiologische PFS (rPFS) nach Prostate Cancer Working Group 3 bzw. Response Evaluation Criteria in Solid Tumors, Version 1.1. Der wichtigste sekundäre Endpunkt war OS, ein weiterer sekundärer Endpunkte war der Score im Fragebogen „Functional Assessment of Cancer Therapy–Prostate“ (FACT-P), explorativ wurden zudem die objektive Ansprechrate (ORR) und die Dauer des Ansprechens (DOR) erhoben. Die primäre Analyse sollte bei etwa 156 rPFS-Ereignissen und die OS-Zwischenanalyse bei etwa 125 Todesfällen erfolgen. Um den Crossover-Effekt herauszurechnen, wurde die Methode der Rank-preserving structural Failure Time (RPSFT) verwendet.Chance für progressionsfreies Überleben um mehr als die Hälfte erhöhtIn der Studie wurden 468 Patienten randomisiert. Bei der primären Analyse (mediane Nachbeobachtungszeit 7,3 Monate; n=467) wurde der primäre Endpunkt des rPFS erreicht (HR 0,41; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,29-0,56; p<0,0001) mit einem medianen rPFS von 12,0 vs. 5,6 Monaten unter Lutetiumvipivotidtetraxetan versus einem zweiten ARPI. Bei der zweiten Interimsanalyse (45,1% der Todesfälle) hatten 123 von 146 (84,2%) Patienten mit rPD, die ARPI abgesetzt hatten, auf das Radiotherapeutikum gewechselt. Laut RPFST-Analyse gab es einen positiven OS-Trend zugunsten von Lutetiumvipivotidtetraxetan (HR 0,80; 95%-KI 0–48–1,33). In der unbereinigten OS-Analyse schnitt dagegen das Radiotherapeutikum schlechter ab (HR 1,16; 95%-KI 0.83-1.64). Die Ergebnisse im FACT-P und ORR/DOR favorisierten die Radioligandentherapie (ORR 41,9% [95%-KI 32,3–51,9] vs. 12,6% [95%-KI 6,9–20,6]; DOR 17,1 Monate [95%-KI 11,6 – nicht abschätzbar [NE] vs. 10,1 Monate [95%-KI 4,6–NE])Die Therapie mit Lutetiumvipivotidtetraxetan zeigte sich insgesamt verträglicher als eine zweite ARPI-Behandlung: Die Inzidenz von unerwünschten Ereignissen vom Grad ≥3 betrug im ersteren Fall 34 Prozent (am häufigsten: Anämie, Mundtrockenheit) gegenüber 44 Prozent im letzteren Fall. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten zu 20 Prozent gegenüber 28 Prozent auf, zum Therapieabbruch führten diese zu 5,7 Prozent im Vergleich zu 5,2 Prozent.Rückt die Radioligandentherapie in der Sequenz nach vorne?„Die rPFS-Daten sind beeindruckend und der Behandlungseffekt ist vergleichbar mit dem, was in der VISION-Studie beobachtet wurde“, sagte Dr. Oliver Sartor, Co-Principal Investigator der PSMAfore-Studie, Vorsitzender des Trial Steering Committee und außerordentlicher Professor in der Abteilung für Urologie der Tulane University School of Medicine, New Orleans, (LA, USA), beim Presidential Symposium des ESMO-Kongresses. Sartor sprach bereits davon, dass Lutetiumvipivotidtetraxetan „eine praktikable Therapie für Patienten sein könnte, die alternative, frühere Optionen benötigen“.„Diese vielversprechenden Ergebnisse von PSMAfore könnten das Behandlungsparadigma für fortgeschrittenen Prostatakrebs verändern, indem sie es Patienten ermöglichen, eine taxanbasierte Chemotherapie zu vermeiden oder zu verzögern, die mit einer hohen Belastung an Nebenwirkungen verbunden ist“, zitiert Novartis, der Hersteller des Therapeutikums, in der zugehörigen Pressemitteilung ihren Executive Vice President Jeff Legos, Dies erscheint jedoch recht weit vorausgegriffen, bedenkt man etwa, dass der Vergleichsarm eine eher schwache Therapieoption darstellt. Nach einer Progression einem ARPI einen anderen folgen zu lassen, wird heute eher nicht mehr empfohlen. Prof. Christopher Sweeney, Direktor des South Australian Immunogenomics Cancer Institute der University of Adelaide (Australien), der von der ESMO eingeladen wurde, die PSMAfore-Daten zu diskutieren, bezeichnete den Wechsel der Antiandrogentherapie als „schwache Kontrolle“, die leicht zu überwinden sei.Der US-amerikanische Dienst „Fierce Pharma“ zitiert in einem Beitrag zur PSMAfore-Studie die US-Investmentbank Leerink Partners, wonach es trotz der guten Ergebnisse gegenüber einem zweiten ARPI unklar sei, ob die Radioligandentherapie die Chemotherapie Docetaxel oder einen PARP-Inhibitor bei Patienten mit BRCA-mutierten Tumoren ersetzen kann. Dennoch sei die Therapie laut Leerink „auf dem besten Weg, der neue Standard für mCRPC vor der Chemotherapie zu werden“.Ob Novartis dies aber tatsächlich beantragen wird, bezweifelt der Fierce-Pharma-Autor Angus Liu indes und nennt als Einschränkung vor allem die um zwölf Prozent höhere Sterbewahrscheinlichkeit unter der PSMA-Therapie in der nicht adjustierten OS-Analyse. „Ein negativer Trend beim Gesamtüberleben wäre für die FDA ein großes Warnsignal. Zwar müsse dies nicht bedeuten, dass das Präparat tatsächlich mehr Schaden verursacht hätte, “jedoch toleriert die FDA die Möglichkeit einer möglichen Beeinträchtigung des Patientenüberlebens normalerweise nicht“, gibt Liu zu bedenken. Bereits im Februar habe Novartis die rPFS-Daten bekanntgegeben, jedoch auf einen Antrag verzichtet, da die FDA reifere Daten angemahnt habe.Man kann davon ausgehen, dass die aktuellen OS-Daten auch jetzt noch nicht für einen erfolgreichen Zulassungsantrag reichen dürften. Bei der Vorstellung der aktuellen Quartalszahlen am 24.10.2023 kündigte das Unternehmen an, die OS-Daten weiter zu beobachten. Eine Antragstellung bei der FDA wird jetzt nicht mehr für 2023, sondern erst für nächstes Jahr in Aussicht gestellt.(ms)

Quelle
Sartor O, Castellano Gauna DE, Herrmann K et al. LBA13 Phase III trial of [177Lu]Lu-PSMA-617 in taxane-naive patients with metastatic castration-resistant prostate cancer (PSMAfore). ESMO 2023