Dr. med. Thomas Kron Medizinische Nachrichten 31.07.2022
Vitamine und insbesondere Vitamin D haben in der Allgemeinbevölkerung ein recht gutes Image. Auch in der Ärzteschaft gibt es da und dort Anhänger von „Vitamin-Kuren”. So heißt es zum Beispiel auf der Webseite einer Hausarztpraxis: „Gerne kombinieren wir die nahezu schmerzfreien Mikroinjektionen der medizinischen Ästhetik mit unseren Power-Infusionen wie der ‘Göttinnen-Infusion’ oder unserer ‘La Belle – Infusion’. Ein Cocktail aus Vitaminen und speziellen Aminosäuren trägt zu jugendlicherem Aussehen und verbessertem Teint bei. Sichtbare Zeichen der Hautalterung werden ebenso positiv beeinflusst wie die fühlbaren Zeichen des Alterns (Knochen- und Sehnenschmerzen). Die ‘Göttinen-Infusion’ ist eine Essenz zur Förderung des allgemeinen Wohlbefindens.“
VITAL-Studie: kein Frakturschutz
In den eisigen Höhen der Wissenschaft sieht es etwas anders aus. Dort ist die Luft bekanntlich dünn, so dass dem Vitamin und seinen „Anhängern“ hinund wieder die Puste ausgeht, wie unter anderem aktuelle Daten zur Primärprävention von Frakturen zeigen. So schützen Vitamin-D-Präparate gesunde Menschen mittleren und höheren Alters offenbar nicht vor Frakturen, wie eine Zusatzstudie der randomisierten und kontrollierten Studie VITAL schlussfolgern lässt; die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Vitamin D und Frakturrate sind gerade im „New England Journal of Medicine“ erschienen.
VITAL war eine randomisierte, kontrollierte US-Studie, in der untersucht wurde, ob eine zusätzliche Gabe von Vitamin D3 (2000 IE pro Tag), Omega-3-Fettsäuren (1 g pro Tag) oder beides Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Männern ab 50 Jahren und Frauen ab 55 Jahren vorbeugt. Die Teilnehmer wurden nicht aufgrund eines Vitamin-D-Mangels, einer geringen Knochenmasse oder Osteoporose rekrutiert. Die Frakturrate wurde mit Fragebögen ermittelt sowie durch eine Auswertung von Krankenakten. Die primären Endpunkte waren die Häufigkeit von Gesamt-, Nicht-Wirbelkörper- und Hüftfrakturen.
Bei 1551 von insgesamt 25.871 Teilnehmern (50,6 % Frauen, Durchschnittsalter 67 Jahre) traten während der Nachbeobachtungszeit von im Mittel 5,3 Jahren 1991 Frakturen auf. Von den 12 927 Teilnehmern mit Vitamin D waren 769 betroffen, in der Placebo-Gruppe 782 von 12 944 Teilnehmern. Die Berechnungen ergaben keine signifikante Auswirkung von Vitamin D im Vergleich zu Placebo auf das Frakurrisiko (Hazard Ratio: 0, 98; 95% CI 0,89 bis 1,08; P=0,70); dies galt auch für das Risiko von nicht-vertebralen Frakturen (HR 0,97; 95% CI 0,87 bis 1,07; P=0,50) und Hüftfrakturen (HR 1,01; 95% CI 0,70 bis 1,47; P=0,96). Selbst bei den 20 Prozent der Teilnehmer, die zusätzliches Kalzium in einer Dosis von bis zu 1200 mg pro Tag einnahmen, wurde nach Angaben der Studienautoren kein signifikanter Effekt des Vitamins auf die Frakturrate festgestellt. Außerdem seien die Ergebnisse unabhängig gewesen von Parametern wie Alter, Geschlecht, Ethnie, Body-Mass-Index oder 25-Hydroxyvitamin-D-Serumspiegel.
„Die Tatsache, dass Vitamin D keine Auswirkung auf Frakturen hatte, sollte jede Vorstellung von einem bedeutenden Nutzen von Vitamin D allein zur Vorbeugung von Knochenbrüchen in der Gesamtbevölkerung zunichte machen“, so die Autoren eines begleitenden Editorials.
D-Health-Studie: keine reduzierte Mortalität
Wenig erfreulich für Vitamin-D-Anhänger waren auch die Ergebnisse der Anfang dieses Jahres publizierten kontrollierten Studie D-Health-Studie: Die monatliche Verabreichung von Vitamin D3 an ältere Menschen führte nicht zu einer Reduktion der Gesamtmortalität.
In 4441 Blutproben von zufällig ausgewählten Teilnehmern (N=3943) betrugen die mittleren 25-Hydroxy-Vitamin-D-Serumkonzentrationen 77 nmol/l in der Placebo-Gruppe und 115 nmol/l in der Vitamin-D-Gruppe. Nach fünf Jahren Intervention wurden 1100 Todesfälle registriert (Placebo-Gruppe 5,1 Prozent und Vitamin-D-Gruppe 5,3 Prozent). Berechnungen ergaben beim Endpunkt Gesamtmortalität keinen signifikanten Unterschied zwischen den Vergleichs-Gruppen (HR 1,04; 95% CI 0-93 bis 1,18; p=0,47); auch beim Endpunkt kardiovaskuläre Mortalität schnitten die Patienten der Vitamin-D-Gruppe nicht besser ab als die der Placebo-Gruppe (HR 0,96; 95% CI 0,72 bis 1,28; p=0,77). Beim Parameter krebs-bedingte Mortalität war es ähnlich (HR 1,15; 95% CI 0,96 bis 1,39; p=0,13).
Krebs-Prävention durch Anreicherung von Lebensmitteln?
Es gibt allerdings auch Positives für die Freunde der Vitamin-D-Supplementierung: Die systematische Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D könnte mehr als hunderttausend krebsbedingte Todesfälle pro Jahr in Europa verhindern. Das haben einer Mitteilung zufolge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) mit Modellrechnungen ermittelt. Die Ergebnisse ihrer Berechnungen haben die Heidelberger Forscher im „European Journal of Epidemiology“ berichtet.
Die Epidemiologen am DKFZ unter Leitung von Professor Hermann Brenner haben den möglichen Einfluss einer gezielten Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D auf die Krebssterblichkeit in Europa untersucht. Brenners Team sammelte dazu zunächst Informationen über die Richtlinien zur Nahrungsmittelergänzung von Vitamin D aus 34 europäischen Ländern. Zudem ermittelten die Wissenschaftler aus Datenbanken die Anzahl krebsbedingter Todesfälle und die Lebenserwartung in den einzelnen Ländern. Diese Informationen verknüpften sie mit den Ergebnissen der Studien zum Einfluss der Vitamin-D-Gabe auf die Krebs-Sterberaten. Mit statistischen Methoden schätzten sie daraus die Anzahl der krebsbedingten Todesfälle, die in den Ländern mit Lebensmittelanreicherung bereits verhindert werden. Außerdem errechneten sie die Zahl der Todesfälle, die zusätzlich vermieden werden könnten, wenn alle europäischen Länder die Anreicherung von Vitamin D in Lebensmitteln einführen würden.
Die Analysen ergaben, dass die Vitamin-D-Anreicherung aktuell etwa 27.000 Krebstodesfälle in allen betrachteten europäischen Ländern pro Jahr verhindern. Würden alle hier betrachteten Länder eine angemessene Vitamin-D-Anreicherung von Lebensmitteln vornehmen, könnten schätzungsweise 129 000 zusätzliche Krebstodesfälle (113 000 in der Europäischen Union) verhindert werden, berichten die Epidemiologen. „Das entspricht einem Gewinn von fast 1,2 Millionen Lebensjahren“, so Brenner in der Mitteilung.
VITAL-Studie: Kein Schutz von Herzgefäß- und Tumor-Krankheiten
Keinen Anlass für einen solchen Optimismus geben hingegen die 2019 publizierten Daten der placebo-kontrollierte Primärpräventions-Studie VITAL: Danach schützt das Vitamin weder vor Herzgefäß- noch vor Tumor-Krankheiten). Primäre Endpunkte waren invasive Tumoren und schwere kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulär bedingter Tod). Zu den sekundären Endpunkten zählten spezifische Tumoren (Brust-, Prostata- und kolorektales Karzinom) sowie kardiovaskuläre Ereignisse. Die Ergebnisse zum Vitamin D und zu Omega-3-Fettsäuren sind getrennt publiziert worden.
In der Beobachtungszeit von im Mittel rund fünf Jahren wurde bei 1617 Teilnehmern – 793 in der Vitamin-D-Gruppe und 824 in der Placebo-Gruppe – ein invasiver Tumor diagnostiziert. Die Risiko-Berechnungen ergaben keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen (Hazard Ratio: 0,96). Auch beim primären kardiovaskulären Endpunkt ergaben die Berechnungen keinen signifikanten Unterschied zwischen den Vergleichs-Gruppen.
Die Ergebnisse der Studie sind, wie die Autoren schrieben, aufgrund der Dauer, der relativ hohen Dosierung von Vitamin D3 und auch der guten Therapie-Adhärenz recht aussagekräftig. Sie sprächen nicht für einen Nutzen der gewählten Vitamin-D-Dosierung für die Primärprävention von kardiovaskulären Erkrankungen und invasiven Tumoren.