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Die Nymphomanie: früher Psychose, heute ein „männliches Konstrukt“?

  • Dr. med. Thomas Kron
  •  Medizinische Nachrichten
  •  13.05.2021

Kernbotschaften

Die Vorstellung der Wissenschaftler und Ärzte von der Nymphomanie hat sich im Laufe der Zeit stark geändert. Heute sei die Diagnose obsolet, erklären Teresa Rendel und Holger Steinberg von der Forschungsstelle für die Geschichte der Psychiatrie an der Universität Leipzig (Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie), die sich mit diesem Wandel befasst haben. 

Nur Männer als Lehrbuchautoren

Ausgewertet haben Rendel und Steinberg insgesamt psychiatrische Lehrbücher, die alle eine heute auffallende Gemeinsamkeiten hatten: „Unter den 17 in die Studie einbezogenen Lehrbuch-Autoren befindet sich nicht eine einzige Frau – auch aus dem Grund, da bis heute kein deutschsprachiges psychiatrisches Lehrbuch aus der Feder einer Psychiaterin stammt“. 

Enge Verbindung von exaltiertem Geschlechtstrieb und religiösem Erleben

Begonnen haben Rendel und Steinberg ihre historische Analyse mit Lehrbüchern aus dem 19. Jahrhundert.  In dieser Zeit sei von einer schweren psychischen Erkrankung ausgegangen worden, die in „irreversible terminale psychische Zustände übergehen könne“. 

Als ein Symptom der Diagnose Nymphomanie gilt in der Regel „krankhaft gesteigerte Libido“. Diese sei, so Rendel und Steinberg,  im 19. Jahrhundert zwar kein zwingendes Kriterium für die Diagnose gewesen, bei nymphomanischen Frauen aber immer, „gegebenenfalls unbewusst, als vorhanden vorausgesetzt“ worden. Als sexualisiertes Verhalten im Sinne einer Nymphomanie hätten zum Beispiel „Zerreißen der Kleidung, Entblößen, öffentlicher Masturbation, schamlose Aufforderung zum Geschlechtsverkehr sowie sexuelle Übergriffe“ gegolten. Bereits im Gespräch habe sich die Nymphomanie „nicht nur durch obszöne Ausdrücke in Wort und Schrift, sondern mitunter auch durch Logorrhoe, Ideenflucht sowie das zwanghafte Sprechen in Reimen“ (Verswut, Metromania) geäußert. Diagnostisch bedeutsam sei auch der Gesprächsinhalt gewesen: Als charakteristisch erwiesen hätten sich insbesondere die Fixierung auf das Thema Hochzeit, die Beschimpfungen und Verdächtigungen anderer Frauen in sexueller Hinsicht sowie die übertriebene Auseinandersetzung mit der eigenen Jungfräulichkeit. Als ausgeprägt pathologische Verhaltensweisen bei Nymphomanie sei auch das Einreiben des Körpers und der Wände mit Menstrualblut verstanden worden, als Symptome. milder Erkrankungsformen zum Beispiel „übertriebene Reinlichkeit, Haarnesteln sowie häufiges Ausspucken“.  Eine besondere Stellung sei „lehrbuchübergreifend der engen Verbindung aus exaltiertem Geschlechtstrieb und religiösem Erleben eingeräumt“ worden; dieses sei bereits bei Gesunden zu beobachten gewesen, etwa in orgiastischen Sekten-Ritualen oder religiöser Schwärmerei während der Pubertät. Eine krankhaft gesteigerte sexuelle Erregung habe sich daher „besonders häufig in Verbindung mit religiös gefärbtem Delir, spirituellem Wahnerleben oder Versündigungsideen“ geäußert.

Therapie: Strenge Diät und harte Arbeit

Was wurde als Therapie empfohlen? Laut Rendel und Steinberg sahen „die ersten Nervenärzte in der Einhaltung strenger Diätetik, also Lebens- und Verhaltensmaßnahmen, die bestmögliche Therapie“. Bedeutet habe dies „das Meiden von Alkohol, Fleisch, würzigen Speisen und aufregenden Tätigkeiten wie geschlechtlicher Betätigung und Festivitäten sowie generelle Reizar- mut der Sinne“. Uneinigkeit habe unter den Ärzten bei der Verordnung kühlender Bäder geherrscht; der Grund: kühlende Bäder könnten zwar periphere Nerven beruhigen, aber auch schädliches wollüstiges Empfinden auslösen. Von zentraler Bedeutung auch bei Nymphomanie sei die „wichtigste Therapieform des 19. Jahrhunderts“ gewesen, „die Arbeits- oder Beschäftigungstherapie“. Insbesondere harte körperliche Arbeit habe „vom aufgeregten Geschlechtstrieb“ ablenken sollen. 

20.Jahrhundert: Beschränkung auf hypersexuelles Verhalten

Spätere Autoren (20. Jahrhundert) hätten unter dem Begriff der Nymphomanie dann „ausschließlich hypersexuelles Verhalten“ verstanden, „das nicht im Rahmen einer affektiven, schizophrenen oder wahnhaften Erkrankung auftrete“. Das Krankheitsverständnis habe zwischen Sexualneurose und funktioneller Sexualstörung gewechselt, die auf den Symptomenkomplex der Hypersexualität beschränkt sei. Der Begriff sei demnach wesentlich enger gefasst worden und im Wesentlichen auf das Hauptsymptom der gesteigerten sexuellen Appetenz beschränkt gewesen.

Therapie: Psychoanalyse und Psychotherapie

Der Leidensdruck der Patientinnen rückte den Autoren zufolge als wichtige Indikation für die Therapie in den Fokus, deren Ziel es gewesen sei, die Lebensqualität der Frauen zu verbessern. Die Prognose sei insgesamt als wesentlich besser eingeschätzt worden; selbst bei Nichtbehandlung oder therapeutischem Misserfolg sei – anders als noch im 19. Jahrhundert – „keine Progression zu schweren psychiatrischen Zuständen, die über das hypersexuelle Verhalten hinausgehen“, erwartet worden. Als Therapie wurden zum Beispiel psychoanalytische und auch psychotherapeutische Verfahren diskutiert und empfohlen. International diskutiert und schon damals kritisiert wurden den Leipziger Autoren nach auch gynäkologische Eingriffe (etwa Klitoridektomie). Es liege, wie sie weiter berichten, die Vermutung nahe, „dass solche Eingriffe in Deutschland auch unter der Indikation einer Nymphomanie zwar stattfanden, allerdings aufgrund des experimentellen Status nicht in die Standardlehrwerke aufgenommen wurden“.

Heute, so Rendel und Steinberg, gälten die meisten historischen Vorstellungen über die Nymphomanie als nicht mehr zeitgemäß. In der 2019 erschienenen 11. Version der ICD sei die Diagnose Nymphomanie nicht mehr enthalten. Eine hypersexuelle Störung sei danach „als Impulskontrollstörung und nicht mehr als sexuelle Funktionsstörung zu bestimmen. Das zweite international gebräuchliche Klassifikationssystem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ enthalte seit dem Erscheinen der Version DSM-III keine Diagnose für hypersexuelle Störungen mehr.

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