„Das hätte Mutter nicht gewollt!“ Kritik und Tipps zur Patientenverfügung – weshalb sie in der Praxis „meist nicht funktioniert“

Ute Eppinger

Sind mit einer Patientenverfügung wirklich alle wichtigen Schritte im Notfall geregelt? Dass dem vorher geäußerten Willen von Patienten häufig nicht entsprochen wird, wenn diese aktuell nicht entscheidungsfähig sind, ist Realität in Deutschland. Weshalb herkömmliche Patientenverfügungen in der Praxis nicht funktionieren, weshalb es eine Patientenverfügung 2.0 braucht und dazu ein kultureller Wandel in Institutionen und Regionen notwendig ist, erklärt Prof. Dr. Jürgen in der Schmitten, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität /Essen. In der Schmitten ist Vorsitzender der Fachgesellschaft Advance Care Planning und betreut als Hausarzt seit vielen Jahren Seniorinnen und Senioren in stationären Pflegeeinrichtungen.

Medscape: Sie berichten von Patienten mit schwerer Demenz, die erfolglos reanimiert werden, und dass Sie von Angehörigen später häufig hören: „Das hätte meine Mutter bzw. mein Vater nicht gewollt.“ Aber Patientenverfügungen gibt es in Deutschland schon lange, 2009 wurden sie gesetzlich verankert. Was läuft denn da schief?

In der Schmitten: Patientenverfügungen werden ausgefüllt in der Hoffnung, genau das zu vermeiden, was dann hinterher häufig in der Praxis passiert. Empirische Studien in Senioreneinrichtungen und auf Intensivstationen bestätigen aber, dass diese Verfügungen in der Breite nicht funktionieren. Das funktioniert vielleicht mal im Einzelfall, wenn der Betroffene eine besonders gute Beratung hatte. Das zu realisieren – dass wir ein System haben, das gar nicht funktioniert – ist schon mal der erste Schritt, um die Situation zu verbessern.

Medscape: Aus welchen Gründen funktionieren herkömmliche Patientenverfügungen denn nicht?

In der Schmitten: Das ist tatsächlich eine Kaskade von Gründen:

1. Sie sind nicht genügend verbreitet. Bislang ist es ja eher eine Frage des Zufalls, wer eine Patientenverfügung hat und wer nicht. Selbst in Senioreneinrichtungen hat nicht mal jeder 2. Bewohner eine solche Verfügung. Man darf das aber nicht vom Zufall abhängig machen, das ist keine Bringschuld des Patienten, dem ist ja häufig gar nicht bewusst, was hier auf ihn zukommen könnte.

2. Patientenverfügungen sind nicht immer zur Hand, wenn sie gebraucht werden. Es gibt immer noch Senioreneinrichtungen, in denen solche Verfügungen nachts in der Verwaltung eingeschlossen werden und für den Rettungsdienst nicht zugänglich sind. Auch das Personal weiß nicht immer, wo eine Patientenverfügung abgelegt ist. Auf Intensivstationen ist es regelmäßig so, dass die Angehörige erst nach Tagen ankommen und sagen, da gibt es eine Patientenverfügung. Zu dem Zeitpunkt ist der Patient aber schon ein paar Tage intubiert und beatmet.

3. Vor allem sind Patientenverfügungen in aller Regel nicht aussagekräftig für viele wichtige, also klinisch relevante Situationen.

4. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der Patient das auch wirklich verstanden und genau so gemeint hat, wie es dokumentiert ist, weil es keinen Prozess der Befähigung – vermittelt durch eine ausführliche Beratung – gegeben hat.

Medscape: Wenn Patientenverfügungen in aller Regel nicht aussagekräftig sind – inwieweit wirken sie sich dann überhaupt auf das Handeln aus?

In der Schmitten: Patientenverfügungen sind – in der heute verbreiteten Form, wie sie etwa von Justizministerien, Ärztekammern oder Anwälten angeboten werden – von ihrer Formulierung her gar nicht darauf ausgerichtet, in kritischen Situationen wirklich handlungsleitend zu sein. Das ist frappierend, denn man würde ja denken, dafür sie die doch eigentlich da. Es ist aber so, dass die Formulierung der Patientenverfügung noch aus einer Zeit stammt, in der wir gesellschaftlich eine sogenannte Reichweiten-Beschränkung hatten.

Medscape: Woran liegt das?

In der Schmitten: Die Patientenverfügung kam aus dem Kontext der Euthanasiebewegung. Die erste deutsche Publikation dazu ist auch in einem Sammelband mit dem Titel „Euthanasie“ erschienen. Es gibt einfach – ob sachlich begründet oder nicht – historisch eine initiale Nähe zur Euthanasiebewegung. Und es gab und gibt große Kreise in der Bundesrepublik, die das mit großer Sorge betrachten – wofür ich sehr viel Verständnis habe.

Das hat dazu geführt, dass eine Patientenverfügung nach außen hin mit Selbstbestimmung assoziiert wird, tatsächlich aber nur auf terminale Situationen anwendbar sind, wenn also der Betroffene ohnehin in naher Zeit sterben muss oder schwerst eingeschränkt ist. Die Formulierungen sind so gewählt, dass sie die Anwendbarkeit der Verfügung auf prognostisch aussichtslose und extreme Situationen beschränken – also unumkehrbar und absehbar auf den Tod zulaufende Zustände sowie ausdrücklich das Wachkoma und die Schluckstörung bei Demenz.

Solche Verfügungen gibt es bei den Justizministerien, bei den Kirchen, bei den Ärztekammern. Das sind immer die gleichen Textbausteine, auch bei Notaren und Rechtsanwälten.

Stellt man sich jetzt aber vor, dass ein 90 Jahre alter, schwer an Demenz leidender Patient an einer COVID-Pneumonie erkrankt und beatmungspflichtig wird oder einen schweren Schlaganfall erleidet, dann sind die verbreiteten Patientenverfügungen für solche Fälle nicht aussagekräftig.

Die in diesen Formularen vorausgesetzte „Aussichtslosigkeit“ der gesundheitlichen Krise ist etwa bei einer COVID-Pneumonie so nicht gegeben. Eine Beatmung dieses Patienten wäre eine massive Belastung, verbunden mit einer weiteren Verschlechterung des Allgemeinzustands und einem hohen Sterberisiko – aber die Behandlung wäre unter diesen Umständen nicht vollständig aussichtslos.

Wenn dieser Patient also unter solchen Umständen nicht mehr lebenserhaltend behandelt werden möchte, dann deckt das die herkömmliche Patientenverfügung nicht ab. Also werden lebenserhaltende Maßnahmen wie Reanimation oder Beatmung häufig begonnen, ohne dass der diesbezügliche Wille des Patienten bekannt ist, weil er nicht sorgfältig erfragt wurde.

Medscape: Seit Dezember 2015 ist das Advance Care Planning (§ 132g SGB V) – die gesundheitliche Vorausplanung – eine Leistung der gesetzlichen Kassen. Dabei sollen in einem Beratungsprozess die Erwartungen eines Patienten an seine zukünftige Behandlung festgestellt und eindeutig und verständlich formuliert dokumentiert werden. Ein Schritt in die richtige Richtung?

In der Schmitten: Ja, ich bin ein großer Fan dieser Gesetzgebung, denn damit wurde ein Anfang gemacht. Richtig ist aber auch: An manchen Punkten ist der § 132g nicht zu Ende gedacht, es gibt Widersprüchlichkeiten und das Ganze ist unterfinanziert. Unlogisch ist auch, dass nur Menschen, die in Senioreneinrichtungen oder in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, ACP bezahlt bekommen sollen. Wer aber genauso krank ist und zuhause gepflegt wird, hingegen nicht. Eigentlich sollten der Schweregrad der Erkrankung oder die Gebrechlichkeit maßgeblich sein, ob die Kasse das bezahlt oder nicht. Aber das kann man ja im Gesetzgebungsprozess künftig entsprechend weiterentwickeln. Und man kann ACP außerdem außerhalb dieser Gesetzgebung bezahlpflichtig anbieten.

Medscape: ACP bedeutet eine grundlegend andere Herangehensweise als bislang, oder?

In der Schmitten: Ja, im Mittelpunkt steht ein qualifizierter Gesprächsprozess. Der stellt sicher, dass die Betroffenen umfassend informiert und aufgeklärt sind und ihre Wünsche für Behandlungsteams auch für den Fall handlungsleitend werden, wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten aufgrund einer gesundheitlichen Krisensituation nicht mehr selbst entscheiden können.

Eine präzise korrespondierende Dokumentation auf möglichst einheitlichen Formularen ist wichtig, so dass der Notarzt, der Rettungsdienstmitarbeiter, die Pflegekraft oder das Klinikpersonal auch Monate später sehen: Ja, das ist schlüssig festgelegt und offenbar das Ergebnis eines sorgfältigen Prozesses: Der Patient hat unterschrieben, der Bevollmächtigte hat unterschrieben (z.B. der Sohn), der Hausarzt hat sich das angeschaut und es gab einen Gesprächsbegleiter.

In Einzelfällen z.B. wenn jemand zu Hause betreut wird und ein sehr enges Verhältnis zu seinem Hausarzt und zur Pflegekraft hat, muss vielleicht gar nichts dokumentiert werden. Aber bei Menschen, die in Einrichtungen leben, mit Pflegepersonal im Schichtwechsel, mit Leihfachkräften, die die Nachtschichten abdecken, die den Patienten nicht so gut kennen, da geht es nicht anders als zu dokumentieren. Und dafür haben wir einen Notfallbogen entwickelt.

Medscape: Fragen Patienten von sich aus nach Patientenverfügungen?

In der Schmitten: Zahlen aus der Zeit der herkömmlichen Patientenverfügungen zeigen, dass Patienten erwarten, dass ihr Arzt das thematisiert. Das gilt umso mehr für ACP – denn die Patienten kennen diese Form der Gesprächsbegleitung ja gar nicht. Für mich ist in meiner Praxis Alltag, dass ich Senioren, die gebrechlich werden, regelmäßig frage: haben Sie schon einmal über eine Patientenverfügung nachgedacht haben, und sie dann ermutige, Advance Care Planning zu machen.

Medscape: Was empfehlen Sie Patienten und Angehörigen, um zu einer Patientenverfügung zu gelangen, die den Namen auch wirklich verdient, zu einer Patientenverfügung 2.0?

In der Schmitten: Menschen, die in Senioreneinrichtungen oder in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, können dort konkret nach ACP-Angeboten fragen. Liegt ein Angebot vor, also ist ein ACP-Gesprächsbegleiter in der Einrichtung aktiv, dann braucht man es nur in Anspruch zu nehmen. Gibt es kein solches Angebot in der Einrichtung, kann man sich an die Leitung wenden und deutlich machen, dass man ein Angebot nach § 132g SGB V in der Einrichtung begrüßen würde, denn das stärkt die Selbstbestimmung der Bewohner.

Menschen, die noch zuhause leben, sollten sich an ihren Hausarzt wenden. ACP Deutschland bietet eine Online-Weiterbildung für Ärzte an. Ärzte, die solche Weiterbildungen durchlaufen haben, werden zertifiziert, ACP-Gesprächsbegleiter kompetent zu supervidieren oder auch selbst solche Gespräche zu führen. Es geht dabei darum, den Patienten an das Thema, an verschiedene Szenarien heranzuführen, aufzuklären, ihn zu befähigen möglichst selbstbestimmt zu entscheiden. Das ist ein hochanspruchsvoller Kommunikationsprozess und muss sehr respektvoll und professionell erfolgen.

Medscape: Noch ist ACP wenig verbreitet. Was muss passieren, dass sich das ändert?

In der Schmitten: Advance Care Planning ist wie eine Kette mit vielen Gliedern, die alle funktionieren und ineinandergreifen müssen, damit am Ende für den Notarzt, den Hausarzt, die Pflegekraft, das Krankenhauspersonal klar ist: Diesen Schritt, den will der Patient jetzt nicht. Das steht so in der Verfügung.

Das Gespräch mit dem Betroffenen ist die eine Säule von ACP, dazu gehört auch die schriftliche Patientenverfügung. Diese muss aber – je nach Setting – alle 1 bis 5 Jahre – sowie bei Bedarf jederzeit – überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. Denn die Situation kann sich ändern, wenn ein Patient z.B. lange in der Klinik war, womöglich beatmet werden musste, auf der Intensivstation lag. Da brauche ich dann ein Hausarztteam oder ein Pflegeteam im Altenheim, das Teil dieses ACP-Konzeptes ist und z.B. den Gesprächsbegleiter anspricht und sagt: Der Patient ist gerade aus dem Krankenhaus zurück, der hat sich so anders geäußert als wie das bisher dokumentiert ist, sprechen Sie bitte mit ihm.

Daneben muss die Patientenverfügung so abgelegt werden, dass jederzeit darauf zugegriffen werden kann, sie muss vom zuständigen Personal im Krisenfall richtig verstanden und auch respektiert werden, es muss ferner sichergestellt werden, dass es die richtige Verfügung ist, wie die Verfügung in die Klinik gelangt etc.

Wir begleiten die Senioreneinrichtungen beim Implementierungsprozess für ACP. Dazu gehört die Bildung einer Steuergruppe, die im Lauf eines Jahres dafür sorgt, dass ACP zuverlässig im Qualitätsmanagement verankert ist. Und dazu gehören eine Reihe von Fortbildungen für das Fachpersonal der Pflege und des Sozialen Dienstes sowie eine Basisfortbildung für alle Mitarbeiter der Einrichtung. Im 1. und 2. Jahr ist die Begleitung daher relativ eng getaktet.

Perspektivisch sollten regelmäßige Sitzungen folgen, um möglichen Bedarf für Nachjustierungen und Nachschulungen zu erkennen. Wichtig ist auch die Überprüfung anhand der Patientenakten: Sind die Patienten bei von Einwilligungsunfähigkeit begleiteten gesundheitlichen Krisen auch so behandelt worden, wie sie das ihrer Verfügung entsprechend wollten?

Die Implementierung von ACP ist ein komplexer Prozess und komplexe Prozesse müssen gesteuert und qualitätsgesichert werden. Wir brauchen dazu einen kulturellen Wandel: Dazu müssen wir alle Fachpersonen in den medizinischen Berufen mitnehmen, schulen und informieren mit dem Ziel, die Orientierung am Patientenwillen auch wirklich zu leben.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

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