Von Marius Haack, Gabriele Seidel, Silke Kramer, Marie-Luise Dierks, Medizinische Hochschule Hannover
Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen sind seit vielen Jahren fester Bestandteil der deutschen Versorgungslandschaft. Sie sind in vielen Städten und Gemeinden aktiv, zumeist verbandlich auf Landes- und Bundesebene organisiert und mittlerweile Kooperationspartner vieler Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen oder Universitäts-Kliniken. In den Gruppen wird das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ praktiziert: chronisch kranke Menschen oder ihre Angehörigen unterstützen sich gegenseitig im Umgang mit einer Erkrankung. „Selbsthilfegruppen bieten Hilfestellungen für Betroffene“, „bei neuen Symptomen findet man Rat und Unterstützung“, „die gemeinsamen
Unternehmungen bauen auf“, „meine Erfahrungen machen anderen Mut“, so die Aussagen von Menschen, die in einer Selbsthilfegruppe aktiv sind
(vgl. SHILD-Studie).
Um die aktuelle Situation der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe in Deutschland zu dokumentieren und um zu analysieren, wie sich das Engagement in einer Gruppe auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auswirkt, wurde in enger Kooperation mit den Selbsthilfeverbänden und -gruppen zwischen 2014 und 2017 die sogenannte SHILD- Studie durchgeführt (Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland – Entwicklungen, WirkungenPerspektiven; SHILD ( Projektteam: Dr. Christopher Kofahl, Prof. Dr. Olaf v. d. Knesebeck, Dr. Stefan Nickel, Silke Werner (Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf); Prof. Dr. Marie-Luise Dierks, Dr. Gabriele Seidel, Marius Haack, Silke Kramer (Medizinische Hochschule Hannover); Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Dr. Ursula Köstler, Francis Langenhorst (Universität zu Köln)). Gefördert wurde
die Untersuchung durch das Bundesministerium für Gesundheit. Auch der Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe e.V. (BPS) war aktiv eingebunden. Unter anderem informierte er via BPS-Magazin seit Studienbeginn kontinuierlich über das Projekt.
Im Rahmen der SHILD-Studie konnten im gesamten Bundesgebiet 1.238 chronisch erkrankte Selbsthilfegruppenmitglieder und 1.321
Gleichbetroffene, die keiner Selbsthilfegruppe angehören (Nicht-Mitglieder), schriftlich befragt werden, darunter auch 576 Männer mit
Prostatakrebs. Alle Angeschriebenen wurden gebeten, Angaben zu ihrer Erkrankung, ihren Lebensumständen, ihrem Gesundheitsverhalten, ihrer Lebensqualität und ihren Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen
zu machen. In anschließenden Analysen wurden die Antworten der Selbsthilfegruppenmitglieder und der Nicht-Mitglieder einander gegenübergestellt. Die SHILD-Studie ging auch den Fragen nach, welche Personengruppen die Angebote von Selbsthilfegruppen
nutzen, warum sie dies tun und wie sie von ihrerGruppenmitgliedschaft profitieren.
Männer mit Prostatakrebs – Wer besucht eine Selbsthilfegruppe?
Die Unterschiede zwischen den befragten Gruppenmitgliedern (N=441, im Durchschnitt seit 6,5 Jahren in einer Selbsthilfegruppe) und Nicht-Mitgliedern (N=135) geben Hinweise darauf, welche Männer mit einem Prostatakrebs die Angebote von Selbsthilfegruppen bevorzugt in Anspruch nehmen.
Im Vergleich zu den Nicht-Mitgliedern (mittleres Alter 70,5 Jahre) sind die Selbsthilfegruppenmitglieder etwas älter (72,3 Jahre). Das liegt auch
daran, dass Betroffene sich meist nicht unmittelbar nach der Krankheitsdiagnose für eine Mitgliedschaft entscheiden, sondern durchschnittlich
erst zwei Jahre später. Sie gehen den Schritt in die Selbsthilfe oft erst dann, wenn erste Behandlungsentscheidungen getroffen, erste Therapien abgeschlossen sind, etwaige Folgekomplikationen sich manifestiert haben und die Krankheit somit ein chronisches Stadium erreicht hat.
Die befragten Selbsthilfegruppenmitglieder sind schwerer erkrankt als die befragten Nicht-Mitglieder. Das bedeutet zum Beispiel, dass Männer, die
aufgrund der durchgeführten Therapie Erektions-oder Kontinenzstörungen haben, eher einer Selbsthilfegruppe beitreten, als Betroffene, die nicht oder nicht in gleichem Maße vor diesen Herausforderungen stehen.
Selbsthilfegruppenmitglieder sind etwas ängstlicher, was das Fortschreiten der eigenen Erkrankung betrifft. Dieser Umstand könnte der erhöhten
Krankheitsschwere geschuldet sein, ist aber vermutlich auch selbst ein Motiv zum Gruppenbeitritt. Andererseits könnte es auch sein, dass die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe die Angst vor dem Fortgang der Erkrankung noch verstärkt. Ein Befragter etwa berichtete: „Die Krankheitsberichte und Diskussionen [in der Selbsthilfegruppe] führen manchmal auch zu Verunsicherung und zu Ängsten“.
Menschen, die in Selbsthilfegruppen gehen, sind sozial engagiert; und zwar auch über ihre Aufgaben in den Gruppen hinaus. 57% der Selbsthilfegruppenmitglieder sind trotz ihrer oft schweren Erkrankung und ihres höheren Alters mindestens monatlich in Vereinen, Verbänden oder anderen Ehrenämtern auch neben der Selbsthilfe aktiv. Bei den Betroffenen, die nicht in eine Selbsthilfegruppe
gehen, sind es 48%.
Keinen Einfluss auf die Entscheidung für eine Gruppenmitgliedschaft hat die Schulbildung. Auch spielt es keine Rolle, ob jemand in West- oder
Ostdeutschland lebt. Wir sehen allerdings, dass die Selbsthilfegruppenmitglieder etwas häufiger in Städten leben als die Nicht-Mitglieder, dies ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass in ländlichen Regionen eher weniger Selbsthilfegruppen existieren.
Was bedeutet Betroffenen ihre Gruppenmitgliedschaft?
Was Männern an ihrer Selbsthilfegruppe besonders wichtig ist, ist vielfältig und oft ganz individuell. Im Vordergrund stehen bei vielen die Gemeinschaft und der Austausch mit Gleichbetroffenen: „Leidensgenossen treffen, die mich verstehen“, „offen über unser Leiden reden“, „sich gegenseitig unterstützen, aufmuntern und nicht unterkriegen lassen“. Hohe Relevanz haben für sie aber auch die Informationen, die sie in den Gruppen erhalten: „Organisierte Vorträge von Fachärzten mit neusten Behandlungsmethoden“, „Diagnose- und Therapiemöglichkeiten kennenlernen“, „gemeinsame psychoonkologische Seminare“.
Welche Auswirkungen hat die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe?
So vielfältig die Gründe für einen Gruppenbesuch sind, so vielfältig sind auch die Auswirkungen, die eine Selbsthilfegruppenbeteiligung auf die Mitglieder, deren Lebensumstände und letztlich auf ihre Lebensqualität haben kann. Kontakte mit anderen Betroffenen, gemeinsame Unternehmungen oder das Engagement für sich selbst und andere – all das impliziert eine potentielle Verbesserung des sozialen Erlebens und bietet Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Studienergebnisse zeigen aber vor allem eines sehr deutlich: Selbsthilfegruppen sind Träger und auch Vermittler von krankheitsrelevantem
Wissen. Damit bieten sie einen Zugang zu Informationen, die viele Betroffene auf anderem Wege nicht finden: Jeder zweite befragte Mann, der eine Selbsthilfegruppe besucht, sagt, dass er in der Gruppe mehr über seine Krankheit lernt als überall sonst.
Unabhängig von Schulbildung, Alter und Krankheitsschwere sowie -dauer wissen die befragten Selbsthilfegruppenmitglieder gegenüber den
Nicht-Mitgliedern mehr zu Patientenrechten (siehe Abb. 2) und zum Themenkomplex Prostatakrebs.
Anteilig wussten mehr Selbsthilfegruppenmitglieder etwa, dass der Gleason-Score aussagt, wie aggressiv ein Tumor ist (richtige Antworten Selbsthilfegruppenmitglieder: 91% vs. Nicht-Mitglieder:
81%), dass der PSA-Wert nicht ermöglicht, die Tumorgröße zu bestimmen (79% vs. 69%), dass als biochemisches Rezidiv der Wiederanstieg des PSA-Wertes nach einer Entfernung der Prostata bezeichnet wird (77% vs. 64%) oder dass die Prostata kein Testosteron produziert (44% vs. 30%).
Selbsthilfegruppenmitglieder haben zudem eine bessere Kenntnis über medizinische Behandlungs- bzw. Patientenleitlinien. Die SHILD-Studie zeigt: 69% der befragten Prostatakrebsgruppen-Mitglieder, aber nur (und trotzdem immerhin) 42% der Nicht-Mitglieder haben schon einmal eine medizinische Leitlinie gelesen.
Die Männer in den Selbsthilfegruppen sind über dies mit der Verbandsarbeit des BPS zufrieden. Sie schätzen insbesondere das BPS-Magazin und Angebote zur Beratung.
Was sagen die Nicht-Mitglieder zu Selbsthilfegruppen?
Selbsthilfegruppen sind auch unter Betroffenen außerhalb der Selbsthilfe anerkannt. Fast 70% der befragten Nicht-Mitglieder finden, dass Selbsthil
fegruppen generell sinnvoll sind. Allerdings kann sich nur jeder Fünfte vorstellen, zu einem späteren Zeitpunkt einer Selbsthilfegruppe beizutreten. Sie ziehen diesen Schritt für sich selbst zum Beispiel deswegen nicht in Erwägung, weil sie sich sozial ausreichend eingebunden fühlen oder keine Probleme verspüren. Immerhin jeder dritte Mann ohne Selbsthilfeerfahrung denkt aber auch, dass er sich in einer Selbsthilfegruppe unwohl fühlen würde.
Siehe auch: