- Michael van den Heuvel
- Dr. med. Thomas Kron
- Aktuelles by Medscape
- 01.03.2021
In letzter Zeit sind zahlreiche Assoziationsstudien zu möglichen Effekten einer Vitamin-D-Substitution erschienen. Das Nahrungsergänzungsmittel soll bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei Infektionen einschließlich COVID-19, bei Tumorerkrankungen und bei Typ-2-Diabetes Vorteile bringen. Prof. Dr. Matthias M. Weber, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) und Leiter des Schwerpunktes Endokrinologie / Stoffwechselerkrankungen am Universitätsmedizin Mainz, bewertet im Gespräch mit Medscape die Datenlage.
Viele Assoziationen, wenig Kausalität
„Das große Problem bei der Vitamin-D-Diskussion ist, dass es viele Studien gibt, die Assoziationen niedriger Vitamin-D-Spiegel mit unterschiedlichen Outcomes zeigen“, sagt Weber. „Daraus entsteht die Hypothese für einen Nutzen von Supplementationen.“ Nun bedeute Assoziation bekanntlich nicht Kausalität. „Wir kennen auch etliche reverse Confounder, die [einen Mangel an] Vitamin D nicht zur Ursache von Erkrankungen machen, sondern möglicherweise zur Folge“, ergänzt der Experte. Er spricht von einer „extrem schwierigen, komplexen Situation“, wie folgendes Beispiel zeigt: Risikopatienten, etwa alte, gebrechliche Menschen, kommen kaum noch in die Sonne und ernähren sich oftmals schlecht. Allein dies führt zu niedrigen Vitamin-D-Spiegeln. Diese Gruppe ist auch prädestiniert für unterschiedliche Erkrankungen. „Außerdem sinken die Vitamin D Spiegel bei akuten Entzündungen rasch, aber nur kurzfristig“, ergänzt Weber. Sein Fazit: „Auf der Grundlage epidemiologischer Assoziationsstudien ist es nicht möglich, derzeit eine Aussage zu treffen.“
Randomisierte, kontrollierte Studien seien der einzige Ausweg. „Nur hat bislang keine der veröffentlichten großen RCTs positive Effekte hinsichtlich eines primären Endpunkts gezeigt“, berichtet Weber. Trends sehe man allenfalls in Subgruppenanalysen oder Metaanalysen methodisch unterschiedlicher RCTs. Hypothesen auf molekularer Basis gebe es viele; diese seien jedoch für die klinische Entscheidung wenig hilfreich. Einige Beispiele aus der aktuellen Diskussion:
Vitamin D und Krebs
Schon länger ist bekannt, dass Patienten mit malignen Erkrankungen niedrigere Vitamin-D-Spiegel im Blut haben. „Ob es sich um die Ursache oder die Wirkung der Krankheit handelt, ist aber unklar“, gibt Weber zu bedenken. Drei Metaanalysen haben Assoziationen von Vitamin-D-Supplementationen mit einer durchschnittlich um 13% niedrigeren Krebsmortalität gezeigt, wie Medscape berichtet hat. Forscher um Prof. Dr. Hermann Brenner vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg errechneten daraus, dass die flächendeckende Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln für alle Menschen über 50 Jahren bundesweit 30.000 Krebs-Todesfälle verhindern könnte. Als Einsparung für diesen Zeitraum nannten sie 254 Millionen Euro. „Die Zahlen suggerieren eine Genauigkeit, wobei die Kausalität wissenschaftlich noch nicht belegt worden ist“, kommentiert Weber. „Das ist aus meiner Sicht nicht nur voreilig, sondern impliziert, es sei eine Frage des Geldes, Patienten zu supplementieren.“
Vitamin D und COVID-19
„Verschärft wurde diese Diskussion durch die Corona-Pandemie und die Assoziation eines schwereren Verlaufs von COVID-19 mit niedrigeren Vitamin D-Spiegeln“, berichtet Weber. Eine Metaanalyse konnte kürzlich zeigen, dass bei schweren Verlaufsformen die Wahrscheinlichkeit für einen Vitamin-D-Mangel um 64% höher war als bei leichten Verläufen (Odds Ratio: 1,64; 95%-Konfidenzintervall: 1,30-2,09).
Umgekehrt war eine unzureichende Vitamin-D-Konzentration mit einem erhöhten Risiko für Hospitalisierungen (OR: 1,81; 95%-KI: 1,41-2,21) und einer Übersterblichkeit assoziiert (OR: 1,82; 95%-KI: 1,06-2,58), wie Medscape berichtet hat. 2 Studien mit Interventions- und Kontrollarm liefern Hinweise auf eine mögliche Effektivität einer Vitamin-D-Supplementation zur Verbesserung der Prognose. Sie schließen aber nur wenige Patienten ein.„Angesichts der bisher limitierten Behandlungsmöglichkeiten und der mit der Corona-Pandemie verbundenen großen Morbidität und Mortalität wurde der Ruf nach einer vorsorglichen Vitamin-D-Behandlung auch ohne vorliegende Evidenz aus randomisierten Studien lauter“, sagt Weber.
„Allerdings hat eine im Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlichte prospektive Placebo-kontrollierte Studie gezeigt, dass eine Hochdosistherapie mit Vitamin D bei einer ausreichend versorgten Bevölkerung keinen signifikant reduzierenden Effekt auf Atemwegseffekte aufweist“, gibt der Experte zu bedenken.
„Und eine in den Annals of Internal Medicine publizierte prospektive Studie hat sogar Hinweise geliefert, dass Vitamin-D-Gaben von mehr als 1000 IE/Tag einen negativen Effekt mit einer vermehrten Sturzneigung bei älteren gebrechlichen Menschen bewirken könnten.“ Dennoch sei wichtig, bei schweren COVID-19-Fällen mit wochenlanger Immobilisation die Vitamin-D-Versorgung sicherzustellen.
Vitamin D und Typ-2-Diabetes
Noch ein Blick auf Stoffwechselerkrankungen: Bereits Mitte 2019 wurden auf dem Kongress der American Diabetes Association (ADA) Ergebnisse einer prospektiven, randomisierten, placebokontrollierten Studie mit Vitamin-D-Gabe versus Placebo an 2.423 Menschen mit gestörter Glukosetoleranz präsentiert. Die Daten wurden bald darauf im NEJM veröffentlicht. Teilnehmer mussten 2 von 3 der folgenden Kriterien erfüllen: Nüchtern-Plasmaglukose 100-125 mg/dl, Plasmaglukose 2 Stunden nach 75 g oraler Glukose 140-199 mg/dl und HbA1c 5,7-6,4%. Nach 2,5 Jahren hatte sich ein Typ-2-Diabetes bei 293 Personen im Vitamin-D-Arm manifestiert, verglichen mit 323 unter Placebo (HR: 0,88; 95%-KI: 0,75-1,04; p = 0,12).
In einem begleitenden Editorial heißt es: „Ein etwaiger Nutzen von Vitamin D für die Diabetesprävention ist, wenn überhaupt, bescheiden und bezieht sich eindeutig nicht auf Menschen mit ausreichender Versorgung. Ob eine gezielte Ansprache von Bevölkerungsgruppen mit Vitamin-D-Spiegeln unter 12 ng/ml, von denen viele zusätzliche Risikofaktoren für Diabetes haben, einen Effekt auf die Betazellfunktion und die Progression zum Typ-2-Diabetes hätte, bleibt ungeklärt.“
Profitiert die im Editorial genannte Subgruppe wirklich? „Ob es hierzu jemals Studiendaten geben wird, erscheint fraglich, da eine Substitution bei einem so ausgeprägten Mangel auch heute schon Standard ist und sich eine solche Kontrollgruppe für eine randomisierte Studie daher aus ethischen Gründen verbietet“, kommentiert Weber.
Der Kompromiss: Niedrig dosierte Supplementation bei Patientenwunsch
„Zusammenfassend bleibt die Datenlage auch im Februar 2021 ohne eindeutigen Beweis für einen Vorteil von hochdosiertem Vitamin D außerhalb der belegten Wirkung auf Knochen“, sagt der Endokrinologe. „Nach Ansicht der DGE erscheint eine routinemäßige Bestimmung der Vitamin-D-Spiegel oder eine hochdosierte Behandlung der Allgemeinbevölkerung mit Vitamin D außerhalb der gesicherten Indikationen zu Lasten der Krankenkassen als nicht gerechtfertigt.“
Doch was sollten Ärzte Patienten mit Supplementationswunsch empfehlen? „Aus unserer Sicht spricht als Kompromiss nichts dagegen, Vitamin D in niedriger Dosis zu empfehlen“, so Weber. „Es spricht auch nichts dagegen, bei Patienten mit vermutlichem Mangel, weil sie etwa immobil oder mangelernährt sind, großzügig auf die Versorgung zu achten.“ Ohne wissenschaftliche Grundlagen könne man aber keine allgemeine Forderung nach Supplementation der gesunden Gesamtbevölkerung ableiten.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.