Vor einer Krebstherapie sollte das kardiovaskuläre Risiko abgeklärt werden

JOURNAL ONKOLOGIE 01/2022

von Prof. Dr. med. Tienush Rassaf und Dr. med. vet. Astrid Heinl

Vor einer Krebstherapie sollte das kardiovaskuläre Risiko abgeklärt werden
© Win Nondakowit – stock.adobe.com

Herz- und Krebserkrankungen sind die häufigsten Erkrankungen in den westlichen Industriestaaten. Viele Patient:innen, die an einem Tumorleiden erkrankt sind, weisen gleichzeitig auch eine Herz-Kreislauf-Erkrankung auf oder haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Tumoren können durch verschiedene Entzündungsmechanismen die Herzfunktion beeinflussen, und umgekehrt können Entzündungsprozesse z.B. bei Herzinsuffizienz die Entstehung von Tumoren begünstigen. Hinzu kommt, dass Krebstherapien Herz und Gefäße schädigen und Herznebenwirkungen hervorrufen können, die akut oder auch erst nach Jahren auftreten. Daher ist es wichtig, dass Patient:innen auch nach einer erfolgreichen Krebstherapie regelmäßig und engmaschig überwacht werden, um z.B. eine beginnende Herzinsuffizienz rechtzeitig zu erkennen. Um für diese Patient:innen eine optimale Betreuung zu gewährleisten, ist die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Spezialist:innen aus der Onkologie und Kardiologie sinnvoll. Prof. Dr. Tienush Rassaf, Essen, beleuchtet im Interview mit JOURNAL ONKOLOGIE die aktuellen Aspekte und Erkenntnisse der onkologischen Kardiologie.

Interview mit Prof. Dr. med. Tienush Rassaf, Klinik für Kardiologie und Angiologie, Uniklinik Essen.

Haben Patient:innen mit kardio­vaskulären Erkrankungen ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken? Wie hoch ist in etwa der Anteil der Patient:innen mit vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankungen, bei denen eine Krebserkrankung diagnostiziert wird?

Patient:innen mit onkologischen und kardiovaskulären Erkrankungen teilen sich ähnliche Risikofaktoren, wie Nikotinabusus, Diabetes mellitus, Übergewicht und fehlende Bewegung: all das führt zu Krebs- sowie auch zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Inzwischen wissen wir, dass nicht nur Krebs Herz-Kreislauf-Erkrankungen verschlimmert, sondern wir haben aus verschiedenen Datensätzen gelernt, dass umgekehrt auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen Krebs triggern können. Es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass bei Patient:innen mit Herzinsuffizienz das Risiko für Krebserkrankungen um etwa 25-58% erhöht ist. Eine weitere Studie hat ergeben, dass das Risiko für Krebserkrankungen bei Patient:innen mit Herzinsuffizienz nach einem Herzinfarkt fast doppelt so hoch ist. Neben den genannten Risikofaktoren spielen auch genetische Einflüsse eine Rolle. Welche Faktoren genau bei den verschiedenen Erkrankungen von Bedeutung sind, wie Alter oder Geschlecht, ist noch nicht geklärt. Man geht jedoch davon aus, dass ältere Menschen mit einer langen Raucheranamnese häufiger betroffen sind. Diese Aspekte werden daher momentan in verschiedenen Studien untersucht.

Gibt es bestimmte maligne Erkrankungen, die bei Patient:innen mit kardiovaskulären Erkrankungen gehäuft auftreten?

Wir wissen, dass für Lungenkrebs und Tumoren des Gastrointestinaltraktes ein erhöhtes Risiko existiert, was u.a. auf Risikofaktoren wie Rauchen zurückgeführt wird. Die Datenlage hierfür ist zwar ebenfalls noch unzureichend, aber die Forschung im Bereich der onkologischen Kardiologie hat sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt. Ebenso hat das Bewusstsein, dass kar-diovaskuläre und Tumorerkrankungen in vielen Bereichen miteinander verknüpft sind und dass sich deren Risikofaktoren überlappen, zugenommen.

In Essen haben wir eine Arbeitsgruppe eingeführt und den Forschungsbereich der kardiologischen Therapie für onkologische Patient:innen zusammen mit den Tumorkliniken ausgebaut, sodass wir das gesamte Spektrum der onkologischen Kardiologie anbieten können. Dies kann und sollte hierzulande aber noch weiter ausgearbeitet werden. In den USA gibt es bereits verschiedene Zentren, die über eine starke Kardio-Onkologie verfügen, aber auch hier befindet sich dieses Gebiet noch in der Entwicklung.

Insgesamt gab es in der Onkologie dramatische Fortschritte. So nimmt die Zahl der Langzeitüberlebenden außerordentlich zu, was natürlich ein toller Erfolg ist. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass mehr als ein Drittel der Patient:innen, die erfolgreich eine Krebstherapie abgeschlossen haben, nicht an Krebs versterben, sondern an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was früher nicht so eindeutig nachvollziehbar war.

Die neuen Ansätze in der Tumortherapie sind sehr effektiv, innovativ und faszinierend, wie z.B. die CAR-T-ZellTherapie. Damit wurde eine deutliche Verbesserung des Therapieerfolgs bei nahezu allen malignen Erkrankungen erzielt, es können aber schwerwiegende Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System auftreten. In Europa gibt es daher immer wieder aktualisierte Leitlinien, Arbeitsgruppen und Positionspapiere mit dem Ziel, diesen Bereich noch besser zu untersuchen, auszubauen und zu stärken. Die Richtung stimmt auf jeden Fall.

Welche kardiologischen Maßnahmen bzw. Vorgehensweisen sind während der Krebstherapie erforderlich – bei Patient:innen mit vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankungen und generell bei Krebspatient:innen?

Das kann nicht pauschal beantwortet werden. Hier müssen folgende Punkten beachtet werden: So muss erfasst werden, was die Patientin/der Patient selbst mitbringt – liegen Risikofaktoren oder kardiologische Vorerkrankungen vor, handelt es sich bereits um eine Herzpatientin/um einen Herzpatienten – und welche Therapieform eingesetzt wird, wie z.B. eine Immuncheckpoint-Inhibitor- oder Anthrazyklin-Therapie, die sich auf das Herz auswirken können.

Wir haben in einem Positionspapier unserer Fachgesellschaft pub­liziert, dass bei bekanntermaßen kardiotoxischen Therapieformen die Patient:innen vor Beginn der onkologischen Therapie vorgestellt werden, um die Risikopatient:innen vorab erfassen zu können. Auch im weiteren Verlauf, je nach Art und Intensität der Therapie, sollten diese Patient:innen in regelmäßigen Abständen untersucht werden.

So ist es ratsam, Patient:innen, die Immuncheckpoint-Inhibitoren erhalten, in den ersten 12 Wochen häufiger einzubestellen, da in dieser Zeit das Risiko für eine durch Immuncheckpoint-Inhibitoren induzierte Myokarditis deutlich erhöht ist.

Wichtig ist auch der Umgang mit Kindern, die eine Krebstherapie erfolgreich überstanden haben, da bei jungen Patient:innen – so zeigen Studien – die sich z.B. bis zum 14. Lebensjahr einer Chemo- und/oder Strahlentherapie unterzogen haben, das Risiko für Myokardinfarkt, Schlaganfall und Herzinsuffizienz bis zum Alter von 35 Jahren deutlich erhöht ist. Diese jungen Patient:innen müssen, wenn sie aus der Kinderklinik entlassen werden, regelmäßig in bestimmten Abständen ärztlich betreut werden, je nach Art und Dosierung der Chemo- und Strahlentherapie.

Dies zeigt, dass es wichtig ist, anhand der Risikofaktoren der einzelnen Patient:innen, der Art und Dosierung der Therapie und der Tumorentität individualisiert vorzugehen, um eine optimale Diagnostik und Therapie zu ermöglichen. Oft muss man sich in vielen Kliniken noch vor allem auf die Risikopatient:innen beschränken, da es nicht in jeder Klinik Expert:innen für diesen Bereich gibt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, in der wir die Anzahl der Patient:innen zusätzlich reduzieren müssen, wodurch Terminverschiebungen und Störungen im Ablauf entstehen. Darüber hinaus haben Krebspatient:innen natürlich Angst sich anzustecken. Das gilt natürlich nicht für Notfälle, diese werden immer behandelt.

Wie oft kommt es zu kardiovaskulären Nebenwirkungen durch Krebsbehandlungen wie Chemo- oder Strahlentherapie? Welche Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Das Auftreten von Nebenwirkungen ist ganz unterschiedlich und hängt einmal mehr u.a. von der Therapieform und der Dosierung ab. So ist das Nebenwirkungsrisiko gering, wenn beispielsweise Anthrazykline in einer niedrigen Dosierung verabreicht werden. Wurde die Patientin/der Patient jedoch bereits als Kind mit Anthrazyklinen behandelt und nun als Erwachsener aufgrund eines Sekundärmalignoms erneut, steigt die Kardiotoxizität deutlich an, da die kumulative Lebenszeitdosis von Anthrazyklinen eine wichtige Rolle spielt. Bei einer Immuncheckpoint-Inhibitor-Therapie beträgt das Risiko, dass im ersten Jahr Herz-Kreislauf-Probleme auftreten, ca. 10%. Strahlentherapien sind insgesamt besser verträglich geworden, jedoch treten Strahlenschäden, wie Schädigungen des Herzmuskels und der Herzgefäße, oft erst nach 10, 15 oder 20 Jahren auf. Ich kann in diesem Zusammenhang von einigen Patientinnen berichten, die vor 20 Jahren sehr hoch dosiert eine Bestrahlung der linken Brust erhalten hatten, und bei denen diese Behandlung zu einer Fibrosierung oder zu Stenosen im Bereich der Herzgefäße geführt hat. Wir sehen auch, dass es bei Patient:innen mit Lymphomen, die großflächig bestrahlt werden, oft Jahre später zu Strahlenschäden kommt. Es sollte daher immer in Erwägung gezogen werden, dass sich derartige Schädigungen am Herz auch erst viele Jahre nach einer Krebstherapie manifestieren können. Daher ist die Zusammenarbeit von Onkolog:innen und Kardiolog:innen immens wichtig, um die Kardiotoxizität onkologischer Therapien zu managen und um mögliche Alternativen zu erörtern, beispielsweise eine Dosisreduktion.

Ziel ist, dass die Krebserkrankung optimal behandelt wird, gleichzeitig müssen aber auch Schäden des Herz-Kreislauf-Systems möglichst vermieden werden. Bei Krebspatient:innen ist daher vor allem die regelmäßige Blutdruckkontrolle von wesentlicher Bedeutung, insbesondere dann, wenn sie z.B. VEGF-Inhibitoren erhalten, da diese den Blutdruck erhöhen können. Bei einer Krebstherapie profitieren die Patient:innen grundsätzlich von einer frühzeitigen guten Einstellung bestimmter Risikofaktoren wie Bluthochdruck, da das Risiko für Komplikationen dadurch geringer ist. Auch ein bestehender Diabetes mellitus muss bei Krebspatient:innen optimal eingestellt werden.

Die wesentlichen Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten bei onkologischen Therapieverfahren, die sich auf das Herz-Kreislauf-System auswirken, sind somit das Erfassen der Risikofaktoren und deren optimale Einstellung. Wenn also eine Patientin/ein Patient bereits unter einer Herzinsuffizienz leidet und sich nun einer Chemotherapie unterziehen muss, sollte die Behandlung der Herzinsuffizienz optimal eingestellt sein, ebenso der Blutdruck sowie die Lipid- und Glukosewerte.

In der Kardio-Onkologie gibt es gute Ansätze mit Betablockern und ACE-Hemmern, um die kardialen Folgen einer Krebsbehandlung zumindest zu reduzieren. Darüber hinaus gibt es auch neuere Medikamente gegen Herzinsuffizienz, deren Wirkung in Hinblick auf Schutz vor Kardiotoxizität noch nicht bekannt ist; Studienergebnisse stehen hier noch aus.

Bei der bereits erwähnten Checkpoint-Inhibitor-induzierten Myokarditis, die 1-2% der Patient:innen betrifft, kommen Kortikosteroide bzw. immunmodulatorische Medikamente zum Einsatz. Eine häufige Nebenwirkung der CAR-T-Zell-Therapie ist das Zytokinfreisetzungssyndrom (CRS), bei dem das Interleukin (IL)-6 stark erhöht ist. Hier führen IL-6-Rezeptor-Inhibitoren zu einer Kontrolle der CRS-Symptomatik. Es gibt demnach individualisiert verschiedene Ansätze, um Nebenwirkungen möglichst zu vermeiden oder zu reduzieren bzw. empfiehlt es sich, bereits vor der Behandlung präventive Maßnahmen zu ergreifen, um das Risiko einer Kardiotoxizität weitestgehend zu minimieren.

Wie werden kardiovaskuläre Komplikationen im Rahmen maligner Erkrankungen behandelt?

Das kommt auf die jeweiligen Komplikationen an. Bei Blutdruckentgleisungen wird der Blutdruck mit der klassischen Medikation eingestellt. Unter verschiedenen Chemotherapien bzw. durch die Krebserkrankung selbst können sich Thrombosen entwickeln, die eine Antikoagulationstherapie erforderlich machen. Zudem wird gehäuft das Akute Koronarsyndrom beobachtet. Auch hier besteht die Therapie u.a. aus der Gabe von Antikoagulantien und einer Revaskularisation. Je nachdem, welche Schädigung bei den einzelnen Patient:innen diagnostiziert wird, wird individualisiert eine entsprechende Therapie durchgeführt.

Man muss also generell beachten, dass diverse Nebenwirkungen und Komplikationen nicht ausschließlich mit der Krebstherapie zusammenhängen, sondern dass auch unabhängig davon plötzlich andere Erkrankungen auftreten können.

Sind Krebstherapien allgemein als kardiotoxisch anzusehen?

Nicht alle Therapien sind kardiotoxisch. Die Kardiotoxizität hängt von verschiedenen Faktoren ab: Dazu gehören die anfangs genannten klassischen kardio­vaskulären Risikofaktoren wie Tabakkonsum, Hypertonie, Diabetes und Hyperlipidämie, die die Patient:innen selbst mitbringen. Auch eine bereits bestehende Herz-Kreislauf-Erkrankung und genetische Faktoren spielen eine Rolle, ebenso Art und Dosierung der Krebstherapie und schließlich auch die Krebserkrankung selbst.

Präventiv und therapeutisch werden, wie schon gesagt, vor allem Betablocker und ACE-Hemmer eingesetzt, die eine Abnahme der Herzleistung verhindern können. Neuere Therapien, wie SGLT2-Inhibitoren oder Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitoren sind mittlerweile Standard bei der Behandlung der Herzinsuffizienz. Ob diese bei Patient:innen mit Krebstherapie-induzierter Herzschwäche genauso effizient sind – oder diese sogar verhindern können – ist noch nicht bekannt.

Das Ziel ist eine erfolgreiche und gleichzeitig herzschonende Krebstherapie. Daher wird momentan viel Forschung betrieben, um herauszufinden, welche Therapieansätze am besten wirken. Hier wird in den nächsten Jahren sehr viel passieren, sodass sich die noch junge Fachdisziplin der Kardio-Onkologie aktuell sehr dynamisch entwickelt.

Vielen Dank für das Gespräch!