Risiken kurativer Strahlentherapie im Urogenitaltrakt

Felix Wezel stellte beim 76. DGU-Kongress in Leipzig eine Übersicht der Studienlage zu Komplikationen am unteren Harntrakt nach strahlentherapeutischen Maßnahmen vor. Foto: Schmitz

Komplikationen am unteren Harntrakt nach strahlentherapeutischen Maßnahmen waren das Thema eines Forums beim 76. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) Ende September in Leipzig. Dabei wurde deutlich, wie schwer diese Komplikationen sein können, dass es aber auch Möglichkeiten gibt, sie zu verhindern und ggf. zu therapieren.

„Die 15 schlimmsten Katastrophen meines Berufslebens waren mit Gewissheit allesamt strahlentherapeutisch bedingte Komplikationen“, berichtete Prof Michael Stöckle, der seiner Pensionierung als Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes entgegensah, aus 40 Jahren Urologie. Stöckle stellte eine Kasuistik vor und präsentierte anhand einer Kohortenstudie aus seiner Klinik konkrete Zahlen zu dem Problem: Zwischen März 2018 und März 2022 mussten 105 Patienten nach Beckenbestrahlung mit kurativer Intention wegen Langzeitkomplikationen in Homburg behandelt werden. Davon brauchten 72 eine stationäre Behandlung. 28 Patienten litten unter einer blutenden Strahlenzystitis, 54 hatten Ureter- oder Urethra-Stenosen, 16 eine radiogene Fistel und 19 Patienten ein Zweitkarzinom, in der Mehrzahl ein Blasenkarzinom ohne zusätzliche Risikofaktoren. Letztlich mussten 26 Zystektomien durchgeführt werden, hinzu kommen 3 Fälle, in denen die Patienten vor der geplanten Zystektomie starben.

„Langzeitrisiken kritischer diskutieren“

Was Zweitmalignome betrifft, schneidet die Radiotherapie gegenüber der radikalen Prostatektomie bei Prostatakrebs deutlich schlechter ab, wie Stöckle anhand von 7-Jahres-Daten demonstrierte, welche die Arbeitsgruppe um Laurence Klotz (Toronto, Ontario, Kanada) publizierte (Nam et al. Lancet Oncol 2014;15:223-231). Hier wurden 16.595 bestrahlte mit 15.870 operierten Patienten verglichen. Insgesamt kamen auf 100.000 Personenjahre 308 Malignome nach Strahlentherapie verlichen mit 113 nach Prostatektomie. Dabei traten die Neoplasien auch an Körperstellen wie der Lunge auf (78 vs. 12), die weit vom Bestrahlungsgebiet entfernt waren. Sogar Malignome im Zentralnervensystem oder im Auge kamen nach Strahlentherapie vor, während sie nach der Operation überhaupt nicht zu verzeichnen waren. „Die Strahlentherapie mit kurativer Intention weist erhebliche Langzeitrisiken für die betroffenen Patienten auf“, schloss Stöckle und forderte, „dass wir diese Risiken bei der Besprechung wesentlich kritischer diskutieren sollten, als das derzeit in unseren Tumorboards landauf, landab üblicherweise passiert.“

Heterogene Studienlage

Auf Stöckles von persönlicher Erfahrung geprägten Vortrag meldete sich aus dem Publikum ein Strahlentherapeut, der sich gegen das „Strahlentherapie-Bashing“ wehrte. „Anhand einer Kohortenstudie, auch wenn sie sehr groß ist, kann man nicht den allgemeinen Schluss ziehen, dass die Strahlentherpie Zweitmalignome verursacht.“ Was die hierzu tatsächlich  hergibt, das fasste dann aber Dr. Felix Wezel zusammen. Der Leitende Oberarzt am Universitätsklinikum Ulm legte dar, dass die Studienlage ziemlich heterogen ist und zu gleichen Komplikationen abweichende Häufigkeiten aufführt. Die bereits von Stöckle angeführte retrospektive Kohortenstudie von Nam et al. aus „Lancet Oncology“, die allgemein das Auftreten anderer Komplikationen als Harninkontinenz oder erektiler Dysfunktion analysierte, zeigt Blutungen im Harn- und Gastrointestinaltrakt (13,7% bzw.41,3%) sowie strahlenbedingte Prostatis und Zystitis (41,3% bzw. 4,0%). Bis auf 6,0% Harntraktblutungen traten diese Komplikationen bei der Prostatektomie überhaupt nicht auf. Aber auch die Operation zeigte Schwächen: Diese führte im Vergleich zur Radiotherapie wesentlich häufiger zu Obstruktionen im Harntrakt (72,8% vs. 12,1%), und 5,1% der Patienten entwickelten Blasensteine, was nach Radiotherapie nie auftrat. „Ich glaube, dass das in heutigen Serien nicht mehr so auftritt“, betonte Wezel. Was Zweitmalignome angeht, ergibt die multivariate Analyse von Nam et al. im Vergleich der Strahlenbehandlung zur Prostatektomie ein doppelt so hohes Risikoverhältnis, das hochsignifikant war (Prostatektomie: Hazard Ratio [HR] 1,00; Radiatio: HR 2,08; p<0,0001). Eine retrospektive Kohortenstudie aus Australien mit 7625 Patienten und 5–15 Jahren Nachbeobachtung stellte dagegen nur selektiv vermehrte Zweitmalignome fest: Im Vergleich von Radiotherapie zu Prostatektomie betrug die HR für Krebserkrankungen im Urogenitalbereich 2,29 und für für Lungenkrebs 1,9. Hingegen war der Unterschied über alle Krebsarten gerechnet nicht signifikant. Eine Metaanalyse stellte fest, dass Blasenkrebs nach Radiatio hochsignifikant häufiger auftrat als nach Prostatektomie, wobei der Unterschied bereits nach 5 Jahren ein p<0,001 erreichte, aber nach 10 Jahren noch deutlicher war. „Je länger man nachbeobachtet, desto mehr Karzinome treten auf“, konstatierte Wezel. „Spätfolgen am Harntrakt nach Strahlentherapie sollten unbedingt in der Patientenaufklärung berücksichtigt werden“, riet der Urologe und forderte die Kollegen auf, die Risikofaktoren zur Entstehung von Strahlentoxizität zu minimieren.

Neue Entwicklungen in der Strahlentherapie

Welche Möglichkeiten es hierzu gibt, das fasste PD Dr. Jan Peeken von der TU München beim Forum in Leipzig zusammen. Die Fraktionierung habe wenig Einfluss auf die Toxizität, jedoch böte die inzwischen erhöhte technische Präzision die Möglichkeit, Blase und Harnröhre besser zu schonen. „Die intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT) ist heute State of the Art“, betonte Peeken. Diese sorge mit einem steilen Gradienten der applizierten Strahlung für „eine hohe therapeutische Dosis, da wo sie hingehört und eine möglischst geringe da, wo sie nicht hingehört“, erklärte der Strahlentherapeut. Dadurch sollen die umliegenden Organe geschont werden. „Man sieht natürlich eine gewisse erhöhte Rate an Zweitmalignomen, aber mit den neueren Techniken, insbesondere mit der IMRT, aber auch mit der stereotaktischen Bestrahlung (SBRT), scheint es weniger zu sein, weil der Dosisgradient so steil ist.“ Ein neues Konzept ist die adaptive Bestrahlungsplanung: Hierdurch lässt sich Peeken zufolge der Bestrahlungsplan an die Füllung von Blase, Sigma und Rektum sowie an die Positionen von Prostata, Urethra und Dünndarm anpassen. „Der klinische Benefit ist hier noch offen“, schloss der Strahlentherapeut.

Quellen Forum „Komplikationen am unteren Harntrakt nach strahlentherapeutischen Maßnahmen“, 76. DGU-Kongress, Leipzig, 26.09.2024