Große Defizite bei der Krebsprävention

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München – Trotz vieler frühzeitiger Todesfälle durch Krebs wird der Krebsprävention in Deutschland nach Ansicht von Experten nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das Netzwerk gegen Darmkrebs e.V. veranstaltete deshalb gestern und heute das 7. Interdisziplinäre Symposium „Vision Zero – die Neuvermessung der Onkologie“. Medizinische Fachgesellschaften zeigten dabei dem Krebs gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft, Industrie und Politik sowie Patientenvertreterinnen und -vertreter sprichwörtlich die rote Karte, damit „Vision Zero“ in der Onkologie nicht länger nur eine Vision bleibt.

„’Vision Zero’ heißt, wir müssen jeden einzelnen Stein umdrehen und alles anschauen: den Lebensstil, die Präventionsangebote, die (frühe) Diagnostik, die Therapie, die Ursachenforschung und den Studienstandort Deutschland“, sagte heute Christof von Kalle, Chair des Berlin Institutes of Health Lehrstuhls für klinisch translationale Wissenschaften an der Charité Berlin. Nach seiner Ansicht braucht es rasch eine digitale Erfassung und Vernetzung von Daten, so dass Ärzte und Patienten erfahren können, wie die letzten Fälle gleicher Art behandelt worden sind.

Die Zahl der Fälle ist nicht zu unterschätzen: In Deutschland sind Krebserkrankungen mit ca. 230.000 Todesfällen pro Jahr die zweithäufigste Todesursache. Auch die Zahl der Krebsneuerkrankungen steigt weiter – nach der Pandemie durch vernachlässigte Vorsorge vermutlich sogar noch stärker. „Forschung ist unser wichtigstes Werkzeug, um dem Krebs die Stirn zu bieten. Wenn wir gemeinsam das Ziel verfolgen, die Krebsforschung zu stärken und weiterzubringen, wird es uns gelingen, die Krebstodesfälle drastisch zu senken. Nicht jeder Tod durch Krebs wird in Zukunft vermeidbar sein, aber sehr viele“, sagte Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung und Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs, in seinem Grußwort zum Symposium.

Die Nationale Dekade gegen Krebs sei die politische Antwort auf die Herausforderung. Es gelte möglichst viele Krebsneuerkrankungen zu verhindern, Prävention und Früherkennung zu verbessern, die Entwicklung neuer Therapien zu unterstützen sowie Forschung und Versorgung – auch digital – stärker zu vernetzen, um Forschungsergebnisse schneller zu den Betroffenen zu bringen.

Defizite wurden an beiden Tagen viele aufgezeigt: „Wir haben beispielsweise keine geeigneten Strukturen in Deutschland, um Daten zu sammeln und zu analysieren und nehmen so vielen Patienten die Chance auf Heilung“, kritisierte von Kalle als einer der Leiter des Symposiums. Krebserkrankungen seien molekular hochkomplex. „Deshalb brauchen wir die Daten aus der Routinebehandlung für die Fortentwicklung und Qualitätsverbesserung von Therapien.“

Wolle man vermeidbare Todesfälle durch Krebs tatsächlich auf Null bringen, müssen man endlich die Aufgaben annehmen und die Möglichkeiten, die zur Verfügung stünden, bündeln. „Derzeit herrscht eine enorme Aufbruchstimmung“, sagte der Onkologe, Hochschullehrer und Unternehmer. Es bestehe jetzt die Aussicht, dass Dinge anders zu machen und „auch den anderen Ärmel nach der Pandemie hochzukrempeln“ und diese Dinge in Angriff zu nehmen. „Es wird Zeit für eine Vision Zero in der Onkologie.“

Mit dem Symposium wolle man Menschen und Institutionen dazu motivieren, den Kampf gegen Krebs aufzunehmen und die Ursachenforschung, Präventionsangebote, diagnostische Möglichkeiten und innovative Therapiekonzepte sowie letztlich auch den Studienstandort Deutschland neu zu denken, erläuterte auch Georg Ralle, von Netzwerk gegen Darmkrebs.

„Die klinische Forschung wird in Deutschland unterschätzt“, bemängelte Michael Hallek vom Universitätsklinikum Köln. Sie habe zu wenig Raum im Bewusstsein von Politik und Wissenschaft selbst. Dabei seien klinische Studien unverzichtbar für neue Therapien und Therapieerfolg. „Es geht dabei nicht nur um die Zulassung von neuen Medikamenten, sondern auch um die Optimierung von Therapien mit komplexen Fragestellungen, den Vergleich von Medikamenten und die Prüfung von Therapien im Versorgungsalltag. Wir brauchen mehr akademische Studien und mehr Wertschätzung dafür“, betonte der Onkologe.

Deutschland sei diesbezüglich zurück im internationalen Vergleich, sagte Hallek. Bei pharmazeutisch induzierten klinischen Arzneimittel-Studien von Pharma-Unternehmen habe Deutschland indes 2019 weltweit den 5. Rang belegt. Die Universitäten benötigten deshalb ein professionelleres Management im Bereich klinischer Studien und mehr qualifiziertes Personal und bessere IT-Strukturen für die Forschung. Zudem müssten Patientenorganisationen systematisch in Forschung eingebunden und deren wissenschaftliche Kompetenz gefördert werden.

Grundlagenforschung stärken

„Wir brauchen langfristige Investition in Grundlagenforschung“, unterstrich Otmar Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren. Deutschland sei eigentlich in Krebsforschung gut aufgestellt und habe positive Grundvoraussetzungen. Tatsächlich existiert in Deutschland ein dichtes Netz von Universitäten und Fakultäten, eine Vielzahl außeruniversitärer Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-, Leibniz- und Fraunhofer-Institute, die Helmholtz-Zentren und viele Biotech-Start-up-Firmen. Medizinische Expertise wird in Deutschland auch in den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung und in Forschungsnetzen gebündelt. „Wir müssen aber auch massiv in die digitale Transformation investieren“, mahnte Wiestler. Die Medizin profitiere wie kaum ein anderes Gebiet von Digitalisierung. „Wir haben in Deutschland einen enormen Nachholbedarf, der dringend angegangen werden muss.“ Die Dekade gegen Krebs könnte nach seiner Ansicht ein Aufschlag sein.

In Angriff genommen werden müssten aber auch viele spezifische Präventionsprojekte, wenn man dem Krebs die Rote Karte zeigen wolle. Beleuchtet wurden auf dem Symposium möglich Ansätze zur Bekämpfung des Zervix-, Darm- und Lungenkrebses. Großes Potenzial gibt es bei der Prävention des Zervixkarzinoms: Obgleich seit mehreren Jahren ein wirksamer Impfstoff gegen das Humane Papillomavirus (HPV) zur Verfügung stehe, seien nur rund 50 Prozent der 15 bis 18-jährigen Frauen geimpft und somit vor Gebärmutterhalskrebs geschützt, bedauerte Christian Dannecker aus Augsburg. „Dabei ist die Impfung ist hocheffektiv und verhindert zuverlässig Zervixkarzinome.“ Seine Vision sind Projekte zur Steigerung der Impfquote, wie beispielsweise Schulimpfungen.

Dieser Ansicht ist auch Peter Hillemanns, Hannover: „Das Potenzial der 9fach- Impfung ist unglaublich. Wir müssen es nur auf die Straße bringen.“ 90 Prozent der Zervixkarzinome und 85 Prozent des Dysplasien seien vermeidbar. Primärprävention durch Impfung bedeutet auch Einschränkung von Operationen, die bei der Vorsorge resultieren. Ziel muss es nach seiner Meinung sein, eine Durchimpfung und Herdenimmunität zu erzielen. In Australien, Kanada Norwegen, Schweden sei dies durch Schulimpfungen gelungen. „Länder mit Schulimpfprogrammen erreichen hohe Impfquoten von 80 Prozent.“ Deutschland liege dagegen bei der HPV-Impfung abgeschlagen im unteren Drittel. „Das können wir unserer jungen Generation nicht antun. 50 Prozent der jungen Menschen wird die Impfung vorenthalten.“

„Wir brauchen eine vehemente Korrektur von Fehlinformationen zur HPV-Impfung,sage Andreas Kaufmann aus Berlin. „Die Impfung ist höchst sicher und effektiv, 84 Impfungen verhindern ein Zervixkarzinom, 17 Impfungen reichen aus, um eine Vorstufe zu verhindern, die zu Angst und Operation führt.

Auch beim dem Darmkrebs verzeichnet Deutschland rund 60.000 Neuerkrankungen pro Jahr, von denen rund ein Drittel der Patientinnen und Patienten sterben. Auf dem Symposium waren sich die Experten einig, dass das mit deutlicher Verspätung eingeführte bundesweite Einladungsverfahren daran nicht viel ändern wird, da die Teilnehmerquoten von etwa 20 Prozent viel zu niedrig sind. Christa Maar, Vorstand der Felix Burda Stiftung, Präsidentin des Netzwerk gegen Darmkrebs e.V. und Ko- Vorsitzende der Arbeitsgruppe Prävention der Nationalen Dekade gegen Krebs, betonte, dass eigentlich niemand mehr an sterben müsse. „Das ist tatsächlich zu verhindern durch Vorsorge.“ Zu häufig würden Tumoren jedoch erst im fortgeschrittenen Stadium beobachtet.

Berechtigte würden zudem die Vorsorge zu selten wahrnehmen, sagte Maar. Gründe seien zum einen der Umstand, dass der Stuhltest nicht mit der Einladung verschickt werde, sondern umständlich beim Arzt abgeholt und dorthin zurückgebracht werden müsse. Ein weiterer Kritikpunkt ist die der Einladung beigelegte Information über Nutzen und Risiken von Stuhltest und Koloskopie.

„Sie mag der Statistik gerecht werden, unsichere oder skeptische Menschen zur Teilnahme an der Darmkrebsvorsorge bewegen kann sie nicht“, kritisierte Jürgen Riemann, Ludwighafen, Vorstandvorsitzender der Stiftung LebensBlicke. In den Niederlanden würden die Teilnahmeraten seit Einführung des Einladungsverfahrens mit einem verständlichen Anschreiben und dem immunologischen Stuhltest dagegen bei jährlich 70 Prozent liegen. © ER/aerzteblatt.de