Erhöhtes Krebsrisiko – Wer Vitamintabletten schluckt, stirbt früher?????

FOCUS-Online-Autorin Anna Vonhoff

Eine Extraportion Vitamine soll nicht nur das Immunsystem ankurbeln und Infekte verhindern, sondern auch vor Krebs schützen. Ein fataler Irrtum. Studien belegen, dass künstliche Vitamine schaden statt nützen – und das Krebsrisiko erhöhen.
  • Menschen, die ungesund leben, versuchen das häufig mit Vitamintabletten auszugleichen – vergebens.
  • Manche hochdosierte, synthetische Vitamine können Lungenkrebs und Prostatakrebs begünstigen.
  • Kalzium erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Problematisch am Hype um Nahrungsergänzungsmittel ist nicht nur, dass sie Geld kosten und dabei unwirksam sind – beispielsweise gegen Erkältungen. Das eigentliche Problem ist, dass es sogar kontraproduktiv ist, Vitamine aus der Dose statt über Obst, Gemüse und andere Lebensmittel zu sich zu nehmen.

Die früher teilweise geäußerte Annahme, dass Antioxidantien in Tablettenform vor Krebs und anderen schweren Krankheiten schützen, werde zunehmend hinterfragt, sagt Klaus Richter vom Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR). Stattdessen gehe man heute davon aus, dass der Körper möglicherweise einen gewissen „oxidativen Stress“ braucht.

Keine erfolgreiche Krebsprävention
Der Pharmakologe Christoph Ritter von der Universität Greifswald forscht unter anderem darüber, ob komplementäre Strategien in der Krebsprävention sinnvoll und sicher sind. Er sieht den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln in der Krebsprävention kritisch.
Alle Studien mit hoher Aussagekraft hätten gezeigt, dass es keine Vitamintabletten gibt, die einen vorbeugenden Effekt haben. Langzeitstudien weisen vielmehr darauf hin, dass die Mittel das Risiko steigern, an Krebs zu erkranken. „Die Präparate schützen nicht vor der Bildung von Tumoren, sondern fördern diese unter Umständen sogar“, sagt Ritter.

Woher kommt die Mär, dass Nährstoffe aus der Dose vor Krebs schützen?

„Erste Beobachtungsstudien in den frühen 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts deuteten in die Richtung, dass Zusätze die Entstehung von Tumoren verhindern könnten“, sagt Ritter.
Allerdings waren diese Studien methodisch nicht zuverlässig, da sie nur über einen kurzen Zeitraum liefen, wohingegen sich genetische Veränderungen wie etwa bei der Tumorentstehung über viele Jahre hinziehen. Außerdem wurden die Ergebnisse verzerrt durch andere Faktoren wie Gewicht und sportliche Betätigung der Befragten. So griffen beispielsweise eher Menschen zu Vitamintabletten, die einen ohnehin gesunden Lebensstil pflegten.
Zudem machten Forscher eine Reihe von Zellversuchen, die eine antioxidative Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln nahe legten. „Diese Versuche waren strenggenommen aber nicht wirklich übertragbar auf die Krebsprävention“, sagt Ritter.
Erst in den letzten Jahren führten Wissenschaftler eine ganze Reihe von kontrollierten Studien durch – und erschraken über die Ergebnisse. Zwei große Erhebungen, die SELECT-Studie und die CARET-Studie, mussten die Forscher sogar abbrechen, da in den Vitamingruppen mehr Menschen erkrankten und an Krebs starben als in den Kontrollgruppen.

Vitamin E erhöht Risiko für Prostatakrebs

An der SELECT-Studie (Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial) nahmen insgesamt 35.000 gesunde ältere Männer teil. Sie war auf sieben Jahre angelegt, die Forscher brachen sie jedoch nach rund fünf Jahren ab. Denn es zeigt sich, dass weder die Einnahme von Vitamin E noch die von Selen das Tumorrisiko senken konnte.
Stattdessen erkrankten in der Vitamin-E-Gruppe mehr Männer an Prostatakrebs als in der Placebogruppe. Die Forscher fanden im Nachhinein zudem heraus, dass die Mittel auch das Diabetesrisiko erhöht hatten.
Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) kann in diesem Zusammenhang deshalb keine Mittel zur Einnahme empfehlen. Ausreichende Belege dafür, dass Nahrungsergänzungsmittel zur Krebsprävention geeignet sein könnten, lägen nicht vor.
Metanalysen hätten gezeigt, dass Vitamin E in hoher Dosierung sogar die Sterblichkeit erhöhen kann. „Bei Personen, die über einen langen Zeitraum hohe Dosis von 270 Milligramm und mehr pro Tag einnahmen, lag die Gesamtsterblichkeit geringfügig über der der Menschen in der Vergleichsgruppe“, sagt Klaus Richter.

Lungentumore durch Vitamin A

Die sogenannte CARET-Studie zeigt, dass Raucher, die Beta-Carotin, eine Vorstufe von Vitamin A, hochdosiert über einen längeren Zeitraum einnahmen, häufiger an Lungenkrebs erkrankten. Teilnehmer waren 29.000 Männer zwischen 50 und 69 Jahren.
Ihr Risiko, einen Tumor in der Lunge zu entwickeln, stieg durch die Einnahme um 18 Prozent – daher mussten die Wissenschaftler auch diese Studie abbrechen. „Die Studien fanden übrigens alle in Industrieländern statt, wo eine ausreichende Versorgung mit Nährstoffen durch die Ernährung gewährleistet ist“, sagt Ritter.

Verkürzte Lebenserwartung

Das Deutsche Krebsforschungsinstitut berichtet von einer Metanalyse, die in der Fachzeitschrift „Journal of the American Medical Association“ erschienen ist.
Danach zeigte diese Untersuchung von insgesamt 68 Studien mit insgesamt 230.000 Probanden zur Wirkung so genannter Antioxidantien, darunter Beta-Carotine, die Vitamine A, C, E und Selen, Erschreckendes. „In der Gruppe der Studienteilnehmer, die Vitamin A und E oder Beta-Carotin einnahmen, trat eine höhere allgemeine Sterblichkeitsrate auf als in der Gruppe, die keine Supplemente verwendete“, schreibt das Deutsche Krebsforschungsinstitut.
Immer mehr große Studien kämen zu einem ähnlichen Ergebnis: Wer regelmäßig Vitaminprodukte einnimmt, lebt kürzer. Selen stehe zudem im Verdacht, das Risiko für hellen Hautkrebs zu erhöhen.
Die Risiken von Vitamin A und E sowie von Selen und Beta-Carotin sind also inzwischen bekannt, ob und für wen Vitamin C gefährlich ist, ist noch unklar. „Da die gewünschten Effekte fehlen, sind die Produkte nicht empfehlenswert“, sagt Ritter.
Bleibt nur noch Vitamin D – als letzte Hoffnung der Pharmalobby. Eine aktuelle Metaanalyse aus 14 Studie zeigt jedoch, dass Vitamin D keinen Einfluss auf das Krebsrisiko hat. Unter der Einnahme von Vitamin D tritt Krebs nicht mehr häufiger, aber auch nicht seltener auf als wenn auf Vitamin-D-Pillen verzichtet wird.
Eine weitere Studie zu Multivitaminpillen mit fast 15.000 amerikanischen männlichen Ärzten als Probanden kommt zwar zu dem Ergebnis, dass die Pillen das Krebsrisiko leicht senken können – allerdings nicht das von Prostatakrebs. Kritisch sehen viele Fachleute jedoch, dass diese großangelegte Studie von Pharmaunternehmen gesponsert wurde.

Behinderung der Krebstherapie

Ein deutliches Defizit an Vitaminen und Spurenelementen kann den Einsatz von Tabletten nötig machen – aber auch dann ist Vorsicht angesagt.
Selbst für Patienten, die aufgrund einer schweren Erkrankung unterversorgt und unterernährt sind, kann eine Supplementierung sinnvoll – aber gleichzeitig auch kritisch sein. „Es ist nicht auszuschließen, dass Wechselwirkungen entstehen“, sagt Ritter. Die Wirkung der Präparate könne unter Umständen eine Chemotherapie behindern. „Es gibt dazu noch wenig handfeste Studien, daher ist ein kritischer Umgang mit Nahrungsergänzungsmitteln in der Krebstherapie wichtig“, sagt Ritter.
Insgesamt hält der Pharmakologe fest, dass gut versorgte Menschen keinen positiven Effekt durch Nahrungsergänzungsmittel erwarten dürfen. Patienten mit deutlichem Mangel könnten diesen eventuell durch Zusätze ausgleichen, aber nur in Rücksprache mit ihrem Arzt.

Kein Nutzen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Ähnlich enttäuschende Ergebnisse liefern die Studien auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Immer wieder konnten Forscher zeigen, dass Kalziumpräparate zwar die Knochendichte erhöhen können – im Gegenzug aber auch das Risiko von Herzinfarkten deutlich steigern. In einer Übersichtsstudie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „British Medical Journal“, analysierten Forscher Untersuchungen mit insgesamt 12.000 Menschen.
Die Hälfte aller Probanden hatte Präparate mit Kalzium geschluckt, die andere Hälfte bekam Placebos. Das Ergebnis ist alarmierend: Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass Kalziumpräparate mit einem Anstieg des Herzinfarktrisikos um 30 Prozent in Verbindung stehen – unabhängig von Geschlecht, Alter und der Art des Präparats. Noch ist unklar, ab welcher Dosierung Kalzium schädlich sein kann.
Noch ist das letzte Wort über den Nutzen von Nahrungsergänzungsmittel in der Krebsprävention nicht gesprochen – die derzeitige Studienlage lässt jedoch keinen anderen als einen ernüchternden Schluss zu.