Eine offenbar unendliche Geschichte: Vitamin-D-Supplementierung

Dr. med. Thomas Kron  Medizinische Nachrichten  28.03.2022

Von John M. Mandrola, MD

Die Geschichte zu Vitamin D ist für Ärzte äußerst lehrreich. Sie ist ein exzellentes Lehrstück zur kritischen Beurteilung von Veröffentlichungen, indem sie Konzepte der biologischen Plausibilität, fehlerhafte Surrogat-Marker, verzerrte Beobachtungsstudien und zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), die keinen Nutzen für die Gesundheit zeigen, miteinander verbindet.

Doch trotz des völligen Fehlens eines Nutzens, was sich anhand von Studien gezeigt hat, geht der Hype weiter. Und die COVID-19-Pandemie hat diesen Hype nur noch verstärkt, da eine Flut von Veröffentlichungen den Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln und COVID-19-Erkrankungen zum Thema hat.

Meine Fragen sind einfach: Warum überzeugen die vorliegenden Beweise Menschen nicht? Wie viele nicht signifikante Studien brauchen wir noch, bevor Forscher aufhören, Vitamin D zu untersuchen, Ärzte aufhören, den Vitamin-D-Spiegel (routinemäßig) zu messen, und Patienten aufhören, Geld für das wenig hilfreiche Ergänzungsmittel zu verschwenden? Was sind die Folgen der fehlenden Überzeugungskraft von Studien? Bevor ich diesen Fragen nachgehe, möchte ich betonen, dass symptomatische Vitaminmängel jeglicher Art behandelt werden sollten.

Biologische Plausibilität und die Wirkung von Beobachtungsstudien

Es ist seit langem bekannt, dass Vitamin D für die Knochengesundheit von entscheidender Bedeutung ist und dass es durch Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet wird. In den letzten 10 Jahren haben Experten aber festgestellt, dass fast jedes Gewebe und jede Zelle in unserem Körper einen Vitamin-D-Rezeptor besitzt. Daraus folgt, dass Vitamin D, wenn es von so vielen Zellen im Körper aktiviert werden kann, lebenswichtig für die kardiovaskuläre Gesundheit, die Immunfunktion und die Krebsvorbeugung sein muss: im Grunde für alle Vorgänge, die mit unserer Gesundheit zu tun haben.

Unzählige Beobachtungsstudien haben ergeben, dass niedrige Vitamin-D-Serumspiegel mit einer höheren Gesamtmortalität sowie einer höhere Mortalität durch Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und jetzt auch bei COVID-19 assoziiert sind. Trotz aller statistischen Anpassungen in diesen Studien können wir jedoch nicht wissen, ob diese Zusammenhänge tatsächlich kausal sind.

Das Hauptproblem sind Störfaktoren (Confounding): Menschen mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel haben andere Erkrankungen, was zu einer höheren Morbidität führt.

Nehmen wir Patienten mit Adipositas, Arthritis und kognitivem Verfall als Beispiel. Sie werden sich wahrscheinlich nicht viel in der Sonne bewegen und damit einen niedrigen Vitamin-D-Spiegel haben. Dieser Laborwert ist lediglich ein Indikator für den insgesamt schlechten Gesundheitszustand.

Randomisiert-kontrollierte Studien sprechen eine deutliche Sprache

Es gibt Hunderte von Vitamin-D-RCTs. Die Ergebnisse lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Vitamin-D-Ergänzungen verbessern die Gesundheit hinsichtlich diverser Endpunkte nicht.

Hier ist eine kurze Zusammenfassung einiger aktueller Studien:

VITAL, eine groß angelegte RCT (n>25.000) mit einer Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren, verglich Vitamin-D-Präparate mit Placebo. Die Autoren fanden keine Unterschiede bei den primären Endpunkten Krebs oder kardiale Ereignisse. Die Raten für Todesfälle jeglicher Ursache waren nahezu identisch. Entscheidend ist, dass in Subgruppenanalysen Effekte nicht von den Vitamin-D-Werten bei Studienbeginn abhingen.

Forscher der D-Health-Studie wiesen mehr als 21.000 Erwachsenen nach dem Zufallsprinzip Vitamin D oder Placebo zu. Sie berichteten nach einer Nachbeobachtungszeit von 5,7 Jahren über keine Unterschiede beim primären Endpunkt der Gesamtsterblichkeit. Auch bei der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen gab es keine Unterschiede.

Dann gibt es noch die Mendelschen Randomisierungsstudien, die manche als RCT der Natur bezeichnen. Diese Studien machen sich die Tatsache zunutze, dass manche Menschen mit Genvariationen geboren werden, die zu einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel prädisponieren. In mehr als 60 Mendelschen Randomisierungsstudien wurden die Auswirkungen eines lebenslangen genetisch bedingten niedrigen Vitamin-D-Spiegels auf verschiedene Ergebnisse untersucht; in den meisten dieser Studien wurden keine Auswirkungen festgestellt.

Erkenntnisse aus Metaanalysen und systematischen Übersichtsarbeiten kommen mit hinzu. Mir gefiel die Schlussfolgerung dieser Übersicht über systematische Übersichten aus dem BMJ (Hervorhebungen des Autors): „Trotz einiger hundert systematischer Übersichten und Metaanalysen gibt es keine überzeugenden Beweise für eine eindeutige Rolle von Vitamin D für irgendein Ergebnis, aber Assoziationen mit einer Auswahl von Ergebnissen sind wahrscheinlich.“

Gute Daten – schlechte Wirkung

Ursprünglich wollte ich die Aussagekraft von RCTs herausarbeiten. Trotz der starken Assoziation von niedrigen Vitamin-D-Spiegeln mit schlechten Behandlungsergebnissen zeigen die Studien keinen Nutzen. Dies deutet stark darauf hin (oder beweist fast), dass niedrige Vitamin-D-Werte mit ventrikulären Extrasystolen nach einem Herzinfarkt vergleichbar sind. Sie sind ein Marker für das Risiko, aber kein Ziel für eine Therapie.

Aber ich sehe jetzt das wichtigere Problem darin, warum Wissenschaftler, Geldgeber, Ärzte und Patienten nicht durch eindeutige Beweise überzeugt werden können. Jeden Tag sehe ich in der Klinik Patienten, die Vitamin-D-Präparate erhalten. Und Fachzeitschriften veröffentlichen immer wieder Vitamin-D-Studien. Befürworter von Vitamin D bleiben optimistisch. Auch kam es in letzter Zeit zu viel Aufmerksamkeit – durch die Hoffnung, dass Vitamin D die SARS-CoV2-Infektion abmildern wird. Das geschah nur auf der Grundlage von Beobachtungsdaten.

Warum der Vitamin D-Hype gefährlich ist

Man könnte dagegen einwenden, dass Vitamin D natürlich und relativ harmlos ist, also wen kümmert die Debatte? Ich biete 3 Gegenargumente an:

  • Opportunitätskosten,
  • Ablenkung und
  • die heimtückische Gefahr mangelnder kritischer Beurteilungskompetenz.

Wenn man Geld für die Vitamin-D-Forschung verbrennt, steht weniger Geld für die Untersuchung anderer wichtiger Themen zur Verfügung. Wenn Patienten durch einen niedrigen Vitamin-D-Spiegel abgelenkt sind, schenken sie ihrem hohen Body-Mass-Index oder ihrem Bluthochdruck möglicherweise weniger Aufmerksamkeit. Und was die kritische Beurteilung angeht, so setzt das Vertrauen in die Medizin voraus, dass die Kliniker in der kritischen Beurteilung kompetent sind. Und was könnte heutzutage wichtiger sein als das Vertrauen in medizinische Fachkräfte?

Ablenkung vom primären Endpunkt

Ein Hauptgrund für das Scheitern der Überzeugungskraft von Beweisen ist Spin – oder eine Sprache, die von dem primären Endpunkt ablenkt. Hier sind 2 (von vielen) Beispielen:

In einer Metaanalyse von 50 Vitamin-D-Studien wurde die Sterblichkeit untersucht. Die Autoren fanden keinen signifikanten Unterschied bei diesem primären Endpunkt. Der 2. Satz ihrer Schlussfolgerung lautete jedoch, dass die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten das Risiko von Krebstodesfällen um 15% verringere. Das ist ein sekundärer Endpunkt in einer Studie, deren primärer Endpunkt nicht signifikant ist. Das ist Unsinn.

Diese Metaanalyse wurde abgeschlossen, bevor die australische D-Health-Studie ergab, dass die Zahl der Krebstoten in der Vitamin-D-Gruppe um 15% höher war: ein Unterschied, der keine statistische Signifikanz erreichte.

Das folgende Beispiel ist noch schlimmer: Autoren der VITAL-Studie, die zuvor festgestellt hatten, dass Vitamin-D-Ergänzungen keinen Einfluss auf den primären Endpunkt invasiver Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen hatten, veröffentlichten eine sekundäre Analyse der Studie, die einen anderen Endpunkt untersuchte: eine zusammengesetzte Inzidenz von metastasierendem und tödlichem invasivem Krebs unabhängig von der Art der malignen Erkrankung. Sie berichteten über eine um 0,4% niedrigere Rate in der Vitamin-D-Gruppe, ein Unterschied, der mit einem P-Wert von 0,04 kaum statistische Signifikanz erreichte.

Aber jeder weiß, wie gefährlich es ist, Daten mit einem anderen Endpunkt neu zu analysieren, nachdem man die Daten bereits gesehen hat. Und selbst wenn dies eine vernünftige Post-hoc-Analyse wäre, sind die Ergebnisse weder klinisch aussagekräftig noch statistisch belastbar. Dennoch wurde die fatal fehlerhafte Studie 60.000-mal aufgerufen und von 48 Nachrichtenagenturen aufgegriffen.

Eine weitere Möglichkeit, von nicht signifikanten primären Ergebnissen abzulenken, besteht darin, kleinteilige Kritik zu üben. Die Vitamin-D-Dosis war z.B. nicht hoch genug. Das würde mich vielleicht überzeugen, wenn es nur 1 oder 2 Vitamin-D-Studien gäbe, aber es gibt Hunderte von Studien und Metaanalysen, und die Ergebnisse sind durchweg null.

Schlussfolgerung: Nein, es ist nicht hoffnungslos

Bleibt als Fazit: Ein Nihilist würde argumentieren, dass der Kampf gegen solche Trends ohnehin aussichtslos ist, etwa, weil man Anreize und Geschäftsmodelle nicht bekämpfen kann. Anreize für Veröffentlichungen sind groß, und Fachzeitschriften und Medien wissen, dass Vitamin-D-Studien Aufmerksamkeit erregen. Genau das ist ihre Währung.

Ich bin kein Nihilist und glaube fest daran, dass wir weiterhin kritische Beurteilung und Zahlenverständnis lehren müssen.

Ich würde sogar vermuten, dass die jahrzehntelange unzureichende kritische Beurteilung durch die Ärzteschaft überzogene Hoffnungen genährt und falsche Normen geschaffen hat.

Stellen Sie sich hypothetisch eine Welt vor, in der Ärzte der Gesellschaft beigebracht haben, dass der menschliche Körper nicht mit einem Motor vergleichbar ist. Sprich: Durch die Reparatur eines Teils (z. B. des Vitamin-D-Spiegels) wird kein anderes System, etwa die „magischen Kugeln“ (Insulin) plötzlich wieder intakt. In einer solchen Welt wäre allen klar, dass man sich auf Assoziationsstudien zum Nachweis der Wirksamkeit eben nicht verlassen kann.

In dieser Welt wären die Menschen immun gegen Spin und Hype. Die Norm wäre, dass Pillen, Nahrungsergänzungsmittel und Verfahren nicht das sind, was zu guter Gesundheit führt. Gesundheit ist eine Mischung aus Glück, gesunden Gewohnheiten und viel Zeit, die man draußen in der Sonne verbringt.

John Mandrola praktiziert als Kardiologe mit dem Schwerpunkt Elektrophysiologie des Herzens in Louisville, Kentucky. Er ist Autor und Podcaster für Medscape. Er vertritt einen konservativen Ansatz in der medizinischen Praxis, beteiligt sich an der klinischen Forschung und schreibt häufig über den Stand der medizinischen Erkenntnisse.