Dtsch Arztebl 2025; 122(3): [16]; DOI: 10.3238/PersOnko.2025.02.07.03Ector,
Carolin; Granada, Adrian
Zahlreiche Taktgeber im Gehirn und im ganzen Körper entscheiden mit darüber, wie effektiv und wie nebenwirkungsreich eine onkologische Therapie ist. Umfassende Analysen könnten künftig dazu beitragen, diese Mechanismen individuell zu entschlüsseln und therapeutische Strategien darauf abzustimmen.
Krebstherapien werden traditionell während der üblichen Krankenhaus- oder Klinikzeiten verabreicht, eine Routine, die eher aus praktischen Gründen als aus biologischen Überlegungen entstanden ist. Obwohl dies für die Gesundheitslogistik zweckmäßig ist, ignoriert dieser Ansatz weitgehend ein grundlegendes Merkmal des Körpers: seine biologische Uhr. Zeitgeber sind in nahezu jeder Zelle des Körpers vorhanden. Sie steuern in ihrer Gesamtheit den individuellen, inneren, zirkadianen Rhythmus (1). Diese Taktgeber regulieren zahlreiche physiologische Prozesse, vom Stoffwechsel und Immunfunktion bis hin zur Hormonfreisetzung und Zellproliferation (2, 3, 4, 5). In den letzten Jahren hat die zirkadiane Medizin aufgezeigt, wie stark diese Rhythmen unsere Gesundheit beeinflussen und wie sie die Behandlung von Krankheiten wie Krebs transformieren könnten (6, 7).
Die Hauptuhr steht im Gehirn, aber es gibt zahlreiche weitere Rhythmusgeber
Im Zentrum von zirkadianen Rhythmen steht eine Hauptuhr (master clock) im Gehirn, eingebettet im Hypothalamus im suprachiasmatischen Nukleus (SCN). Dieser zentrale Taktgeber koordiniert unsere Schlaf-Wach-Zyklen und steuert rhythmische Hormonveränderungen (8). Beispielsweise erreichen Produktion und Blutspiegel des Hormons Cortisol am Morgen ihren Höhepunkt, um unsere Wachsamkeit zu steigern, während der Spiegel des Melatonin nachts ansteigt, um uns auf den Schlaf vorzubereiten (9, 10). Doch der SCN arbeitet nicht allein. Um diesen Taktgeber herum existiert eine Sinfonie peripherer Uhren in fast jedem Organ, einschließlich Haut, Leber, Herz und Lunge, die darauf abgestimmt sind, ihre Funktionen zu bestimmten Tageszeiten auszuführen. Diese zellulären Uhren kommunizieren mit dem SCN und untereinander und synchronisieren dadurch körperliche Prozesse wie ein gut abgestimmtes Orchester (1).
Diese präzise Koordination hat direkte Auswirkungen darauf, wie der Körper Krankheiten bekämpft, Medikamente verarbeitet und sogar wie Krebs wächst. Forschungsergebnisse zeigen, dass bis zu 80 % der proteincodierenden Gene, unter anderem solche, die entscheidend für die Tumorentwicklung und den Medikamentenstoffwechsel sind, zirkadian reguliert werden (11, 12). Für Krebspatienten bedeutet dies, dass der Zeitpunkt der Verabreichung von Behandlungen ebenso wichtig sein könnte wie die Art der Behandlung. Das neue Konzept der Chronotherapie zielt darauf ab, Krebstherapien mit diesen biologischen Rhythmen in Einklang zu bringen, indem es Momente nutzt, in denen der Körper am empfänglichsten und der Tumor am verwundbarsten ist (Abbildung 2) (13, 14).
Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend – Einblicke aus der Klinik
Zahlreiche Studien liefern klare Belege dafür, dass das Timing in der Krebstherapie die Behandlungsergebnisse signifikant beeinflusst (15, 16, 17, 18, 19). Tageszeitabhängige Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verabreichung von Medikamenten zu bestimmten Tageszeiten die Toxizität reduzieren und in einigen Fällen die Wirksamkeit steigern kann (6, 21). Chronomodulierte Regimes haben eine verbesserte Verträglichkeit gezeigt, mit Reduktionen von Nebenwirkungen wie gastrointestinalen Beschwerden und Immunsuppression. Ein konkretes Beispiel ist die zirkadiane Toxizität von 5-FU, dessen enzymatische Umwandlung zur zytotoxischen Form vermehrt am Tag stattfindet, während der Abbau von 5-FU zu nächtlichen Ruhezeiten erfolgt, was mit verminderten Nebenwirkungen wie Durchfall und Neutropenie verbunden ist (6, 20, 21, 22). Wichtig ist, dass diese Vorteile ohne Beeinträchtigung der therapeutischen Wirksamkeit der Behandlung erreicht werden, was den Integrationswert zirkadianer Prinzipien in die klinische Praxis unterstreicht.
Ähnliche Prinzipien gelten für die Strahlentherapie, bei der die Tageszeit die Reparaturmechanismen des gesunden Gewebes und die Anfälligkeit von Krebszellen beeinflusst (23). Studien legen nahe, dass die Ausrichtung der Strahlenapplikation an den natürlichen biologischen Tagesrhythmus Schäden am umliegenden gesunden Gewebe minimieren kann, während die effektive Tumorkontrolle beibehalten wird (24, 25). Diese Ergebnisse bekräftigen die Idee, dass die körpereigenen Rhythmen die Verabreichung selbst von traditionell nichtbiologischen Behandlungen wie Bestrahlungen steuern können.
Die Rolle tageszeitlicher Effekte ist besonders auffällig im Kontext von Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICIs), einer Klasse von Immuntherapeutika. Jüngste groß angelegte retrospektive Studien mit Tausenden von Patienten mit Melanomen, Lungen- und Nierenkrebs haben gezeigt, dass der Zeitpunkt der ICI-Verabreichung die Behandlungsergebnisse signifikant beeinflusst (7, 26). Patienten, die diese Therapien zwischen 12 und 14 Uhr erhielten, zeigten ein besseres progressionsfreies und Gesamtüberleben im Vergleich zu denen, die nach 16 Uhr behandelt wurden (26). Diese Ergebnisse werden der zirkadianen Regulation der Aktivität von Immunzellen und des Tumormikromilieus zugeschrieben. Immunzellen wie T-Zellen erreichen ihre höchsten Spiegel im Blutkreislauf um 2 Uhr morgens und ihren Tiefpunkt um 14 Uhr, sodass Tumoren in den frühen Morgenstunden einer bis zu 2-fach höheren Immunüberwachung ausgesetzt sind als am Nachmittag (2). Zirkadiane Störungen, sei es durch äußere Faktoren wie unregelmäßige Zeitpläne oder innere Faktoren wie die Krankheit selbst, können diese Effekte dämpfen und die Wirksamkeit von Immuntherapien verringern (7).
Individuelle Chronobiologie muss gemessen und berücksichtigt werden
Trotz der klaren Belege für die Bedeutung des Timings in der Krebstherapie stand die klinische Umsetzung der Chronotherapie historisch vor erheblichen Herausforderungen. Ein Hauptproblem bestand darin, die innere zirkadiane Zeit eines Patienten genau zu bestimmen, die aufgrund genetischer Veranlagung, Lebensstil und Krankheitszuständen stark zwischen Individuen variieren kann (14, 29). Die Identifizierung der spezifischen biologischen Uhrenphase einer Person ist entscheidend, um Behandlungspläne zu optimieren, die Wirksamkeit zu maximieren und Nebenwirkungen zu minimieren (13, 14).
Jüngste Fortschritte überwinden diese Herausforderungen durch innovative Strategien zur Bestimmung der zirkadianen Zeit bei einzelnen Patienten. Dazu gehören transkriptomische Analysen, tragbare elektronische Geräte (wearables) und metabolomische Profilanalysen, die zusammen eine präzise und nichtinvasive Bestimmung von inneren biologischen Rhythmen ermöglichen (13, 28, 29). Einige dieser Ansätze haben sich zu vielversprechenden kommerziellen Anwendungen entwickelt und ebnen den Weg für eine breitere klinische Anwendung, (13, 28, 30, 31). Sobald wir jedoch über diese Informationen verfügen, stellt sich die nächste entscheidende Frage: Wie nutzen wir sie, um Behandlungsentscheidungen zu unterstützen? Aktuelle Innovationen haben Hochdurchsatz-Screening-Tools eingeführt, die einen klaren Rahmen für die Bewältigung dieser Herausforderung bieten. Diese innovativen Ansätze kombinieren Live-Imaging, fortschrittliche Datenanalysen und zellbasierte Assays, um systematisch zu bewerten, wie die Tageszeit die Wirksamkeit von Medikamenten und Tumorreaktionen beeinflusst. Durch die Identifizierung tageszeitabhängiger Variationen in der Medikamentensensitivität und optimaler Behandlungsfenster überbrücken diese Methoden die Lücke zwischen zirkadianer Bewertung und umsetzbaren Behandlungsstrategien (32).
Chronotherapie entschlüsseln mit Hochdurchsatz-Screening
Um unser Verständnis dafür zu vertiefen, wie die zirkadianen Rhythmen des Körpers die Krebsbehandlung beeinflussen, sind Methoden erforderlich, die systematisch die tageszeitabhängige Abhängigkeit der Medikamentenwirksamkeit und -toxizität bestimmen. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, wurde in der Arbeitsgruppe Granada an der Charité (www.granadalab.com) ein Hochdurchsatz-Framework entwickelt, das zeitlich abgestimmte chemotherapeutische Behandlungen mit langfristigem Live-Cell-Imaging kombiniert. Dieser Ansatz ermöglicht eine detaillierte Analyse von Medikamentenreaktionen über den zirkadianen Zyklus hinweg und bietet eine skalierbare Möglichkeit, tageszeitabhängige Variationen sowohl in malignen als auch in nichtmalignen Zellen aufzudecken (32).
Unsere Untersuchungen konzentrierten sich auf eine Untergruppe von Brustkrebszellmodellen sowie nichtmalignen Brustepithelzellen, um zu erforschen, wie Krebs- und gesunde Zellen unterschiedlich auf chemotherapeutische Mittel zu verschiedenen Tageszeiten reagieren. Diese duale Betrachtung der tageszeitabhängigen Sensitivität ist ein entscheidender Fortschritt, da sie die Identifizierung von individuellen Behandlungsfenstern ermöglicht, die den therapeutischen Nutzen maximieren, indem sie die Zielerfassung von Krebszellen verbessern und gleichzeitig die Toxizität für gesundes Gewebe minimieren.
5-FU bringt bei Brustkrebszelllinien beste Effekte zwischen 8 und 10 Uhr
Unsere Ergebnisse zeigten auffällige tageszeitabhängige Unterschiede in der Medikamentensensitivität, die nicht nur zwischen subtypspezifischen Zellmodellen, sondern auch zwischen malignen und nicht-malignen Zellen variierten. In einigen Fällen waren die Tageszeitprofile von Krebs- und gesunden Zellen nahezu entgegengesetzt, wodurch potenzielle optimale Behandlungszeiten identifiziert werden können, die den größten therapeutischen Index aufweisen. So wurde für das Chemotherapeutikum 5-Fluorouracil (5-FU), welches die DNA-Synthese inhibiert, das Zeitfenster zwischen 8 und 10 Uhr mit dem größten Nutzen in einem In-vitro-Setting identifiziert. Während diesen Zeitraums zeigte 5-FU eine maximale Wirksamkeit bei der Bekämpfung von Brustkrebszellen, während nichtmaligne Zellen geschont wurden, was den Nutzen eines tageszeitabhängigen Ansatzes demonstriert.
Um die Behandlungsoptimierung zu unterstützen, haben wir einen „chronotherapeutischen Index“ entwickelt. Dieser Index bewertet Medikamente und Tumorzellmodelle basierend auf ihrem Wirksamkeitszuwachs, wenn sie zum optimalen Zeitpunkt verabreicht werden, und ermöglicht so die systematische Identifizierung der vielversprechendsten Kandidaten für die Chronotherapie. Unter den getesteten Wirkstoffen erreichten 5-FU und der mTOR-Inhibitor Torin2 die höchsten Platzierungen, was auf ihr großes Potenzial für eine tageszeitabhängige Optimierung in der Krebsbehandlung hindeutet.
Diese Resultate unterstreichen die Bedeutung der Berücksichtigung von zirkadianen Rhythmen sowohl von Krebs- als auch von gesunden Zellen bei der Gestaltung chronotherapeutischer Strategien. Ein umfassendes Verständnis der tageszeitabhängigen Reaktionsdynamik ermöglicht die Entwicklung präziserer und effektiverer Behandlungspläne, die darauf abzielen, die biologischen Schwachstellen von Krebszellen auszunutzen und gleichzeitig gesundes Gewebe zu schützen.
Die Erkenntnisse schlagen eine interdisziplinäre Brücke von der zirkadianen Biologie zur praktischen Anwendung in der Onkologie. Sie beinhalten Expertise in der Krebsbiologie, computergestützte Modellierung und klinische Medizin. Da sich die Instrumente zur Bewertung der patientenspezifischen zirkadianen Zeit weiterentwickeln, bietet dieser Ansatz einen Fahrplan für die Umsetzung in Behandlungsstrategien, die den klinischen Nutzen der Chemotherapie für Patienten verbessern werden.
Fazit für die Praxis
- Das Timing ist entscheidend: Die Abstimmung der Chemotherapie auf die zirkadianen Rhythmen kann die Wirksamkeit erhöhen und Nebenwirkungen reduzieren.
- Hochdurchsatz-Assays und nichtinvasive Methoden wie Speichel- oder Blutproben können die personalisierte Bestimmung des optimalen Behandlungszeitpunkts unterstützen.
- Klinische Studien und die routinemäßige Dokumentation des Behandlungszeitpunkts sind entscheidend, um chronotherapeutische Strategien zu verfeinern und zu validieren.
- Zusätzliche Ressourcen siehe granadalab.org
DOI: 10.3238/PersOnko.2025.02.07.03
1Charité Comprehensive Cancer Center
Charité – Universitätsmedizin Berlin
2Lebenswissenschaftliche Fakultät
Humboldt-Universität zu Berlin
3Deutsches Konsortium für Translationale
Krebsforschung (DKTK), Berlin
Interessenkonflikt: Dr. Granada und Frau Ector geben keine Interessenkonflikte an. Die Forschung wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.