Geriatrische Supportivtherapie: Wie Ältere eine Krebstherapie leichter überstehen

Lenzen-Schulte, Martina

Ältere Menschen brechen onkologische Behandlungen öfter ab oder sind eher von Nebenwirkungen betroffen als jüngere. Sie benötigen ein eigenes Assessment, das ihre Vulnerabilitäten und Stärken erfasst, um dadurch individuelle Therapieanpassungen vornehmen zu können.

Foto: picture alliance/BSIP Amelie Benoist

Die neue S3-Leitlinie zur supportiven Therapie steht kurz vor der Vollendung. Bis zum 21. Oktober 2024 war die Konsultationsfassung zur Kommentierung freigegeben (1). Jetzt wird an der Endfassung gefeilt, die noch im 1. Quartal 2025 veröffentlicht werden soll (2). Diese Leitlinie befasst sich allgemein und altersübergreifend damit, wie sich unerwünschte Wirkungen von onkologischen Therapien vermeiden oder abmildern lassen. Dazu zählen etwa Anämie, Neutropenie, Haarausfall, orale Mukositis, Nausea, Emesis, Diarrhoe Polyneuropathien, Paravasate und ossäre Toxizität.

Doch ein „one size fits all“ stößt gerade bei älteren Menschen an Grenzen. Sie benötigen eine speziell auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmende supportive Therapie. Ein Umstand, der zum einen bedeutsam ist, weil die Tumorinzidenzen im Alter überproportional ansteigen. Zum anderen weiß man, dass ältere Patientinnen und Patienten häufiger als jüngere eine onkologische Therapie wegen der Nebenwirkungen abbrechen müssen.

Das zeigte beispielsweise die retrospektive Analyse von Lungenkrebstherapien (1 837 Teilnehmende; 365 älter als 75 Jahre). 11,8 % hatten ein kleinzelliges und 88,2 % ein nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom (3). Von insgesamt 89 der älteren Patientinnen und Patienten, die eine platinbasierte Chemoimmuntherapie erhielten, mussten 30 % die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen vorzeitig beenden. Sie seien dafür nicht „fit“ genug gewesen, so die Begründung. Auffällig ist, dass das Stadium des Bronchialkarzinoms keine Rolle spielte und lediglich eine Minderheit von 25 % der so behandelten Älteren eine bestmögliche Supportivtherapie erhielten (4).

„Das ist keineswegs ungewöhnlich“, hält PD Dr. med. Valentin Goede fest. Seit Langem sei klar, dass gerade die älteren Patientinnen und Patienten im Hinblick auf unerwünschte Nebenwirkungen onkologischer Behandlungen besonders vulnerabel seien. „Dabei gibt es hinreichendes Wissen darüber, wie man gerade dieser Gruppe helfen kann, eine Krebstherapie regulär zu beenden und sie zu erleichtern. Und damit ermöglicht man es den älteren Krebspatientinnen und Krebspatienten, besser von Heilungschancen zu profitieren“, betont der Departmentleiter Onkologische Geriatrie am St. Marien-Hospital in Köln.

Frailty richtig definieren und erfassen

Die bloße Erklärung zu diesen Therapieabbrüchen, Ältere seien einfach nicht „fit“ genug, differenziert nicht hinreichend. Sehr viel genauer erfasst man die Faktoren, die den Erfolg einer onkologischen Therapie bei älteren Personen gefährden, mit dem Begriff der „Frailty“, was gemeinhin, aber nicht ganz angemessen mit Gebrechlichkeit übersetzt wird. Präziser versteht man hierunter die altersassoziiert geringeren Reserven und eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber endogenen oder exogenen Stressoren, etwa einer Chemo- oder Strahlentherapie. Dabei schlagen unter anderem Komorbiditäten zu Buche, aber auch Einschränkungen im Alltag oder – ebenfalls im Alter eher anzutreffende – Faktoren wie fehlende soziale Netzwerke (5).

Während die Geriatrie typische allgemeine Nachteile von Frailty kennt, erhöht diese im onkologischen Kontext zusätzlich spezielle Risiken: „Nicht das Alter per se, sondern Frailty ist der Faktor, der deutlich anfälliger macht für therapieassoziierte Nebenwirkungen. Und Frailty führt eher dazu, dass die Behandlung unterbrochen oder sogar vorzeitig beendet werden muss“, erläutert Goede (Kasten).

Die Evidenz dafür, dass eine Erfassung und ein Adressieren der Frailty den älteren onkologischen Patientengruppen Vorteile bringt, ist da, wie eine aktuelle Publikation im „Journal of the American Geriatric Society“ zeigt (6). Zum einen wurde 2020 die wichtige Studie GAP70+ mit 718 Teilnehmenden publiziert, bei der die Berücksichtigung und Behandlung von Frailty dazu führte, dass höhergradige Toxizitäten (Grad 3 und 4) als primärer Endpunkt um 20 % niedriger waren (7). Das bestätigte die GAIN-Studie (n = 605 über 65-Jährige) mit 10 % weniger Toxizität weitgehend (8). Beide Studien – GAP70+ und GAIN – schlossen unterschiedliche Krebsdiagnosen ein. Dazu zählten Kolon-, Brust-, Lungen- und Urogenitalkarzinome. In der kleineren GERICO-Studie mit 142 Teilnehmenden mit Kolonkarzinom schlossen ebenfalls mehr von ihnen ihre Therapie ab, wenn es zuvor ein sogenanntes geriatrisches Assessment (GA) gab – gefolgt von Maßnahmen zur Behandlung der identifizierten Frailty-Faktoren (9).

Ein solches GA arbeitet mit Instrumenten wie Scores, Skalen oder Performancetests aus der Geriatrie, um systematisch die gesundheitlichen Probleme älterer Menschen zu erfassen. Es gibt es in einer deutschen Version auch als Praktisches Geriatrisches Assessment (PGA) (10). Auf diese Weise lässt sich einschätzen, wie autark, mobil, emotional resilient oder kognitiv befähigt die älteren Menschen sind und welche spezifischen Gesundheitsrisiken sie haben. „Entscheidend ist nun, dass daraus Konsequenzen gezogen werden“, betont Goede.

So hat sich herausgestellt, dass schon allein der Beginn der Systemtherapie mit reduzierter Dosis der Medikamente bereits erheblich zur Verringerung der Grad-3–5-Toxizitäten beitrug. Dies konnte schlicht dadurch umgesetzt werden, indem die GA-Ergebnisse und die daraus folgenden Konsequenzen etwa beim Tumorboard übermittelt worden waren. Ein weiterer Bereich des GA-basierten Managements (GAM) – was eine Verbesserung der mittels GA ermittelten Handicaps bedeutet – basiert beispielsweise auf einer Ernährungsoptimierung oder auf einem Kraft- und Mobilitätstraining vor Beginn der systemischen Therapie.

Schlüsselempfehlung durch die ASCO

Das hat nun andernorts schon Früchte getragen: So sollen gemäß der neuen Leitlinie der American Society of Clinical Oncology (ASCO) alle onkologischen Patientinnen und Patienten ≥ 65 Jahre dann, wenn sie eine systemische Therapie erhalten, auch ein GA erhalten (11). „Das ist eine Schlüsselempfehlung“, urteilt Goede und betont, „vor allem, weil sie mit der Forderung verknüpft worden ist, entsprechend tätig zu werden, wenn bei den Betroffenen Einschränkungen festgestellt werden.“ Hierzulande sei dies aber noch nicht breiter in aktuelle Leitlinien eingegangen.

Noch einfacher und zeitsparender ist das auch in deutscher Version verfügbare Praktische Geriatrische Assessment (PGA) (Tabelle) (12). Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Empfehlungen für das Vorgehen bei bestimmten Befunden, die sich aus dem PGA ergeben haben. „Wir möchten niedrigschwellig und zeitsparend dazu anleiten, die notwendigen Supportivmaßnahmen so einfach wie möglich umzusetzen“, erklärt Goede.

Aufbau und ungefährer Zeitaufwand des Praktischen Geriatrischen Assessments (PGA)
TabelleAufbau und ungefährer Zeitaufwand des Praktischen Geriatrischen Assessments (PGA)

Ein zentraler Faktor, der in der nun überarbeiteten Supportivleitlinie noch immer nicht berücksichtigt worden ist, ist die Fatigue (1). Krebsassoziierte Fatigue (CRF) betrifft in moderater bis schwerer Ausprägung fast die Hälfte aller Tumorkranken und kann Jahre nach der Krankheit noch fortdauern (13). Fatigue bezeichnet ein belastendes Gefühl von körperlicher, emotionaler und/oder kognitiver Müdigkeit beziehungsweise Erschöpfung. „Das Risiko für Fatigue steigt mit zunehmendem Alter an“, erläutert Anna Sophie Wagner, die im Bereich Psychoonkologie der Medizinischen Klinik II am Uniklinikum Würzburg die Versorgungssituation von Krebspatientinnen und -patienten mit Fatigue in Deutschland beforscht. Sie verweist auf das Problem, dass die Behandelnden aus den verschiedensten Disziplinen häufig versäumen, aktiv nach Fatigue zu fragen. „Oft denken gerade die Älteren, das gehöre einfach dazu und sei ohnehin nicht zu ändern“, erläutert Wagner. Eine Umfrage unter 1 179 Krebspatienten in deutschen Zentren ergab etwa, dass 39 % nicht wussten, dass man wegen Fatigue einen Arzt aufsuchen könnte und 22 % befürchteten, als schwächlich wahrgenommen zu werden. Die Hälfte der Befragten wurde im ersten Halbjahr nach der Diagnose nie von Behandelnden auf Fatigue angesprochen – dies geschah umso seltener, je älter der Patient war (14).

Ein Assessment für die Strahlentherapie

Prof. Dr. med. Dirk Vordermark, Direktor der Universitätsklinik für Strahlentherapie in Halle (Saale) hat mehrere Studien angestoßen, um eine GA-basierte Unterstützung auch für die Radioonkologie zu implementieren. Mehr als die Hälfte (50–60 %) aller onkologisch Behandelten benötigen im Verlauf eine Strahlentherapie, bei rund der Hälfte ist es sogar die einzige Behandlungsform (15).

„Generell“, so erläutert der Radioonkologe, „kommen in den sehr alten Altersgruppen auf jeden Fall eher strahlentherapeutische Verfahren ins Spiel.“ So lässt sich aus registerbasierten Analysen zum Beispiel für das Frühstadium des nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms (NSCLC) ableiten, dass in den höheren Altersgruppen die Risiken – frühe Mortalität nach 30 oder 90 Tagen – zu Ungunsten der Operation kippen und für diese Patientenkollektive eine Bestrahlung weit weniger belastend ist (16). In all diesen Fällen stellt sich auch für das Fachgebiet Radioonkologie die Frage, wie intensiv die Behandlung sein darf. „Hierfür möchten wir ebenfalls gerne das GA heranziehen“, so Vordermark.

Um genügend Evidenz zusammenzutragen, wurden in Halle (Saale) verschiedene Pilotstudien zum Erhalt der Lebensqualität und der Alltagsfunktionalität bei älteren Krebspatienten initiiert (17, 18, 19). PD Dr. med. Heike Schmidt, Leiterin der AG Lebensqualität in Halle (Saale), war daran federführend beteiligt und leitet zur Zeit die PartEngO-Studie (Partizipative Entscheidungsfindung in der Geriatrischen Onkologie) (20). „Aktuell evaluieren wir das GA im Zusammenhang mit Decision Coaching, um ältere Krebspatienten dabei zu unterstützen, zu einer informierten Entscheidung zu gelangen“, erläutert sie. Hierzu werden Tests herangezogen, die möglichst nah am Alltag sind und einen Bezug zu den Nebenwirkungen der Behandlung haben: „Wenn etwa ein älterer Mensch beim sogenannten TUG-Test (timed up and go) nicht mehr rasch genug aufstehen, eine gewisse Strecke zurücklegen und sich dann wieder setzen kann, wird ihm unmittelbar einsehbar, was es bedeutet, bei Erbrechen oder Durchfall nicht mehr rechtzeitig zur Toilette zu kommen“, erklärt Schmidt.

Schmidt betont ausdrücklich, dass ein GA nicht allein dazu diene, Defizite zu erkennen, sondern auch, die Ressourcen, die ein älterer Mensch noch hat, klar zu erfassen. „Leider“, so räumt sie ein, „scheitern viele Umsetzungen an der Personalknappheit.“ Dabei kann sich die Investition in ein GA sogar finanziell auszahlen, wie eine Studie aus Kanada belegen konnte (21).

Info

Von rund 500 000 Krebskranken, die pro Jahr in Deutschland ihre Diagnose erhalten, sind > 50 % älter als 70 Jahre. Auf eine Person unter 15 Jahren mit einem Karzinom kommen 200–300 über 80-Jährige mit einer solchen Diagnose (5, 24).

Krebs im Alter lohnt die Therapie

Foto: Sir.Vector/stock.adobe.com
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Ageism in der Onkologie ist Fakt: Ältere Krebskranke erhalten seltener als jüngere eine leitliniengerechte Behandlung.

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Folgen von Frailty

allgemein

  • vorzeitiger Tod
  • Pflegebedürftigkeit
  • Häufung ungeplanter Klinikaufenthalte (Drehtüreffekt)
  • höheres Risiko für Stürze und Delir
  • Exazerbation und Progression chronischer Krankheiten
  • verzögerte Rekonvaleszenz nach akuten Erkrankungen
  • unerwünschte Arzneimittel-Interaktionen

onkologisch

  • geringere Therapieverträglichkeit
  • häufigere Therapieunterbrechungen und -abbrüche