Wenn Windelkauf zum Tabu wird – Markt für Inkontinenzprodukte wächst

 Produktion von Inkontinenzhilfen. Foto: Paul Hatmann AG / BVMed

Inkontinenz schränkt die Lebensqualität Betroffener in hohem Maße ein. Zwar gibt es ein breites Spektrum an Hilfsmitteln aller Art. Doch obwohl die Branche eindeutig ein Wachstumsmarkt ist, wird aus Sicht von Fachleuten zu wenig an Innovationen gearbeitet.

Kondomurinale, Windelslips, Fäkalkollektoren: Früher oder – meist – später müssen sich Millionen von Menschen mit Inkontinenz und den verfügbaren Hilfsmitteln befassen. „Inkontinenz ist ein wachsendes Problem einer alternden Gesellschaft“, erklärt Manfred Beeres vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed).

Blasenschwäche und Stuhlinkontinenz zählten zu den häufigsten Ursachen für die kostenintensive Betreuung alter Menschen in Alten- und Pflegeheimen. In Deutschland seien je nach Schätzung sechs bis neun Millionen Menschen betroffen. „Die Dunkelziffer dürfte hoch sein“, so Beeres. Folglich ist der Handel mit Inkontinenzprodukten angesichts des demografischen Wandels mit mehr Älteren und Mehrfacherkrankten bei höherer Lebenserwartung ein Wachstumsmarkt.

Die Paul Hartmann AG mit Sitz in Heidenheim zählt zu den größten Herstellern auf dem Gebiet. Der Jahresumsatz steigt seit Jahren, zuletzt auf 2,2 Milliarden Euro. „Besonders daran ist, dass allgemein die verkauften Volumina an Produkten steigen, gleichzeitig die Preise je Produkt aber sinken“, teilt ein Unternehmenssprecher mit. Dies sei vor allem durch den Kostendruck im Gesundheitssystem getrieben.

Kritik an Pauschalbeträgen der Krankenkassen

Das hat nach Einschätzung von Experten und Betroffenen Folgen für die Weiterentwicklung der Produkte. Stefan Süß vom Selbsthilfeverband Inkontinenz beklagt, dass die Pauschalbeträge der Krankenkassen zu niedrig seien, als dass sich Innovationen für die Hersteller lohnten.

„Was jetzt gemacht wird, ist oft nur ein Facelift.“ Kunden würden auch nicht Produkte empfohlen, die sie wirklich brauchten, sondern solche, die von den Kassenzahlungen gedeckt seien. Wenn die Qualität dann nicht den Anforderungen entspreche, müsse der Patient selbst zahlen und beispielsweise mehr Windeln oder Slips kaufen.

Selbst der kaufmännische Leiter einer kleineren Firma, der nicht genannt werden will, räumt ein, dass Produkte nicht weiterentwickelt würden, weil das nicht lukrativ sei. „Aus Versorgungssicht ist das sehr bedenklich.“ Gelöst werden könne das nur auf politischer Ebene.

Hightech in der Windel

Dabei betont etwa der BVMed die Fortschritte in den vergangenen Jahren: So seien hochwertige Produkte sehr saugstark dank sogenannter Superabsorber, geruchsfrei und geräuschfrei, knisterten also nicht, so Beeres. „Sowohl in den Produkten als auch in der Produktion steckt viel Hightech.“ Durch Sensoren und Apps könne man sich zudem eine bessere Überwachung und Steuerung in Alten- und Pflegeheimen vorstellen, um Pflegepersonal zu entlasten.

Hartmann arbeitet unter anderem daran, dass die Produkte leicht sind, bequem sitzen und keine Hautentzündungen auslösen. „Speziell ältere Haut ist empfindlicher und oft trocken“, erläutert ein Sprecher.

„Ausscheidungen wie Urin können die Haut schnell schädigen.“ Auch im Sinne der Gesundheit von Pflegekräften werde an Produkten gearbeitet.

Wachstumspotenzial bei Männern

Das Unternehmen Essity sieht Wachstumspotenzial auch bei Männern. Sie hätten weniger Erfahrungen mit Hygieneprodukten als Frauen. Am Harnverlust sei bei Männern häufig die Prostata schuld. Zudem macht Essity deutlich: Inkontinenz kann Menschen jeden Alters betreffen.

Jüngere verlören etwa nach Unfällen oder Operationen unfreiwillig Urin, aber auch nach einer Schwangerschaft und Entbindung. Bei Frauen spiele darüber hinaus die Hormonumstellung in den Wechseljahren eine Rolle. Weitere Faktoren seien Krankheiten wie Diabetes und Alzheimer.

Sowohl auf dem Markt für aufsaugende Inkontinenzprodukte wie Erwachsenen-Windeln als auch für ableitende Produkte wie Katheter gibt es laut Branchenverband BVMed jeweils nur wenige, marktbestimmende Anbieter. „Wir rechnen nicht mit mehr Unternehmen, da die größten Produzenten jahrzehntelange Know-how-Vorsprünge in diesem Markt mit sehr hohen Produktionszahlen und speziellen Maschinen haben.“

Raus aus der Tabu-Ecke

Ein Thema, das die gesamte Branche beschäftigt: Inkontinenz ist ein Tabu. Manche Produkte für leichte Blasenschwäche gibt es in Drogerien – das Gros aber nur in Apotheken oder Sanitätshäusern. „Zudem spielt bei diesem tabuisierten Thema der Online-Handel eine immer größere Rolle“, teilt der Hartmann-Sprecher mit.

Der Bereich sei so scham- und tabubehaftet wie kaum ein anderer, so der BVMed. Betroffene zögen sich gerade bei inadäquater Versorgung zurück, nähmen nicht mehr am sozialen Leben teil und fühlten sich stigmatisiert. Nach der europäischen Studie „Breaking the Silence“ von Hartmann im vergangenen Jahr wünschen sich sieben von zehn Inkontinenten, dass die Gesellschaft offener mit dem Thema umgeht.

Aus Sicht des Verbands tut sich aber seit einigen Jahren auch etwas in Sachen Enttabuisierung. Unternehmen und Fachgesellschaften wie die Deutsche Kontinenz Gesellschaft arbeiteten stark an der Aufklärung.

Der BVMed versucht mit der Kampagne „Körperstolz“ solche Krankheiten aus der „Tabu-Ecke“ zu holen. Essity bildet unter anderem Pflegekräfte in Heimen aus und rührt kräftig die Werbetrommel auf allen Kanälen.

Dass dann zum Beispiel in Spots im Fernsehen wirklich von Inkontinenz die Rede ist und nicht mehr nur von einer „sensiblen Blase“, begrüßt der Selbsthilfeverband Inkontinenz zwar. Aber Süß sagt, alle Beteiligten würden immer nur in dem Bereich enttabuisieren, von dem sie selbst Vorzüge haben: “Der Hersteller will das für seine Produkte, Ärzte, damit die Menschen in die Praxis kommen.“ Das sei jeweils nur ein Stück weit Enttabuisierung. „Wichtig wäre, offen und ohne irgendwelche Hintergründe über das Thema Inkontinenz zu reden.“

(Marco Krefting, dpa / ms)