Priorisierung auf der Intensivstation: Nur die Erfolgsaussichten zählen

Dr. med. Thomas Kron  Konferenzberichte by Medscape  08.12.2021

Die Corona-Ampeln in einigen Regionen stehen auf Rot, schwerkranke COVID-19-Patienten werden aus überlasteten Regionen in andere Bundesländer ausgeflogen. Noch funktioniert das Kleeblatt-Konzept. Doch was, wenn nicht mehr? 

Die Empfehlungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“, die die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) unlängst aktualisiert hat, bewegen die Gemüter (Medscape berichtete). 

Nach welchen Kriterien wird priorisiert? Wie lassen sich die Empfehlungen in die Praxis umsetzen? Dr. Gerald Neitzke, Medizinethiker und Mitverfasser des Leitfadens, hat auf dem Online-Kongress der DIVI antworten gegeben.

Entscheidendes Kriterium: Die klinische Erfolgsaussicht

Das entscheidende Kriterium für die Priorisierung ist die klinische Erfolgsaussicht des Patienten. Nur bei einem „absoluten Mangel an Ressourcen sowohl lokal als auch überregional“ dürfe eine Priorisierung überhaupt erwogen werden, stellte Neitzke klar. 

Wobei die Erfolgsaussicht eine Abkehr von der bislang klar Patienten-zentrierten Medizin (Indikation + Patientenwille) darstellt. „Denn das, was nach Indikation und Patientenwille möglich sein soll, kann aufgrund eines absoluten Mangels nicht stattfinden. Wir müssen also ein grundlegendes Prinzip, das wir immer in der Medizin anwenden, hintanstellen“, betonte Neitzke. 

Die Empfehlungen basieren auf der Vorstellung der Gleichheit aller Menschen. Einzelne Gruppen dürfen damit aufgrund ihres Alters, aufgrund bestimmter Vorerkrankungen oder Behinderungen oder aufgrund eines bestimmten sozialen Status nicht diskriminiert werden. „In Ländern wie Italien und Frankreich war das während der ersten Welle anders. Dort fand eine Altersrationierung statt“, erinnerte Neitzke. 

Dabei wurde festgelegt, bis zu welchem Alter beatmet wurde, und wer über dieser Grenze lag, wurde palliativ behandelt. „Das ist nach unseren Vorstellungen nicht mit Gleichheit vereinbar. Niemand sucht sich aus, an welcher Erkrankung er leidet, das bedeutet, dass wir diese Priorisierung unter allen Patienten, die einen intensivmedizinischen Behandlungsbedarf haben, vornehmen müssen“, erklärte Neitzke. 

Ungeimpfte Patienten: Das Schuldprinzip hat nichts verloren

Der Medizinethiker sieht keine wirkliche Alternative zur klinischen Erfolgsaussicht. „Legen wir nicht die Erfolgsaussicht zugrunde, müssten wir ganz bewusst bestimmte Gruppen zurückstellen. Aus unserer Sicht würde das eine Diskriminierung von Menschen darstellen, die nicht mit unserer Verfassung vereinbar ist.“ 

Selbstverschulden, so Neitzke, habe bisher in der Medizin nie eine Rolle gespielt. In den aktualisierten Empfehlungen haben die Autoren deshalb noch mal deutlich hervorgehoben, dass „auch die Tatsache, nicht geimpft zu sein, kein Grund für eine Benachteiligung bei der Behandlung auf der Intensivstation darstellt.“ 

Ein Teilnehmer der Sitzung berichtete von „einigen Kollegen“, die einen „dicken Hals bekommen, wenn ein Patient versorgt wird, der sich nicht hat impfen lassen wollen“. Ein anderer zog Parallelen zu Situationen, in denen ein von einem Auto angefahrenes Unfallopfer schwerverletzt in die Notaufnahme eingeliefert wird – und nur Minuten später der alkoholisierte Unfallverursacher. 

„Ich finde es wichtig, dass wir nicht müde werden zu sagen, dass ein Schuldprinzip in der Medizin nicht praktiziert wird und auch Rache keinen Platz hat“, sagte Neitzke. In Gesprächen mit den Intensivteams an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), an der er die AG Klinische Ethik leitet, habe er die geschilderte emotionale Betroffenheit sehr deutlich gespürt. Er sei sehr dankbar für die hohe Professionalität, mit der alle gesagt hätten: „Es interessiert uns doch sonst auch nicht, ob jemand durch Alkoholkonsum, durch Rauchen oder durch Extremsportarten in eine Schädigungssituation gekommen ist.“

Haben geimpfte COVID-19-Erkrankte dann wenigstens per se eine bessere Erfolgsaussicht als Nicht-Geimpfte – und werden deswegen vorgezogen? „In vielen Fällen ist das wahrscheinlich so, dass Geimpfte mit einem Impfdurchbruch weniger schwer erkranken“, so Neitzke. Vorstellbar sei aber, dass auch ein Geimpfter das Pech habe, so schwer zu erkranken, dass seine klinischen Erfolgsaussichten schlecht seien.

Losverfahren und „first come, first served“ sind keine Alternativen

Alternativ das Los entscheiden zu lassen, wäre medizinisch nicht plausibel: „Eine Münze zu werfen, die über Leben oder Nicht-Leben entscheidet – das wäre den Mitarbeitern auf Station nicht zu vermitteln“, sagte Neitzke. 

Wenig sinnvoll sei auch die von manchen vorgeschlagene Regel „first come – first served“: Wer bereits auf der Intensivstation liegt, wird weiter behandelt bis entweder Aussichtslosigkeit besteht oder der Patient eine Weiterbehandlung ablehnt. Der professionelle Einsatz der Mitarbeiter würde sich damit auf einen Personenkreis mit nur marginalen Überlebenschancen konzentrieren.

„Alle anderen, die vielleicht eine gute Behandlungschance haben, würden dann von der Notaufnahme direkt in die palliative Versorgung kommen. Das ist aus Professions-ethischer Perspektive nicht sinnvoll“, so Neitzke. „Wir hätten auf die letzten verfügbaren Intensivbetten einen erheblichen Ansturm. Und müssten abwägen – wem geben wir vielleicht jetzt schon die Chance auf ein Intensivbett. Ich möchte mir nicht vorstellen, welche schwierigen Situationen dadurch entstehen könnten“, sagte Neitzke. 

Er hält das Kriterium auch aus Gründen des Selbstschutzes für untauglich. „Die volle Arbeitskraft ausschließlich für Menschen einzusetzen, die nur marginale Überlebenschancen haben und gleichzeitig zu wissen, dass in der Notaufnahme Menschen sterben, die vielleicht eine erheblich bessere Chance hätten – das würde zu erheblicher emotionaler und moralischer Belastung führen“, so Neitzke.

Was bleibt, ist die klinische Erfolgsaussicht – 3 Parameter zur Einschätzung

Bleibt als beste Option das Kriterium klinische Erfolgsaussicht. Zur Einschätzung dienen 3 Parameter:

  • aktuelle Erkrankung (Schweregrad),
  • Komorbiditäten (Begleiterkrankungen, die für den jetzigen Gesundheitszustand eine Prognoseveränderung/Prognoseverschlechterung bedeuten),
  • allgemeiner Gesundheitszustand.

Um diese Einschätzungen treffen zu können, sind interdisziplinäre, interprofessionelle (Zentrale Notaufnahme, operativ, konservativ) Prognosegespräche über die Stationsgrenzen hinweg notwendig, so Neitzke.

In der Praxis sieht die Vorgehensweise so aus: 

  • Ressourcen prüfen/schaffen (Notaufnahme, OP, regional),
  • Überblick über alle Patienten mit Intensivbedarf (Notaufnahme und Normalstation und Intensivstation),
  • Rangreihe: Wer hat die schlechtesten Überlebenschancen?

Erforderlich sei dafür ein Überblick über alle Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen: Das schließt Patienten aus der Notaufnahme ein, diejenigen, die bereits auf der Intensivstation liegen, und auch einzelne Patienten von Normalstationen, die aufgrund gesundheitlicher Verschlechterung auf die Intensivstation kommen. 

„All diese Patienten müssen in eine Rangreihung gebracht werden, denn Priorisierung heißt ja: das Vorziehen einzelner“, erklärte Neitzke.

Dennoch blieben ungeklärte Herausforderungen und Probleme:

  • Es handelt sich um Entscheidungen über Leben und Tod.
  • Nachteile für Nicht-COVID-19-Patienten.
  • Patienten mit extrem schlechter (oder verschlechterter) Prognose müssen zugunsten anderer vom Beatmungsgerät genommen und sterben gelassen werden (ex-post-Triage).
  • Juristisch liegt eine Tötung durch Unterlassen vor (da [grenzwertige] Indikation und Behandlungswunsch).
  • Nach Einschätzung des Deutschen Ethikrats kann mit dem Verständnis der Gerichte gerechnet werden.

Neitzke machte deutlich, dass die Gleichstellung aller Erkrankten auch zu Nachteilen für Nicht-COVID-19-Patienten führt: „Auch der schwer brandverletzte Mensch, der Mensch mit schwerer Hirnblutung, der Mensch mit einem Polytrauma wird in die Priorisierung miteinbezogen. Das ist notwendig, um die Person zu identifizieren, bei der trotz intensivmedizinischer Behandlung erwartet wird, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit stirbt“, sagte Neitzke. 

Emotionale Belastungen

In einer ersten Einschätzung habe der Ethikrat signalisiert, dass Ärzte mit dem Verständnis der Gerichte rechnen können, wenn sie sich – in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung – auf die Kriterien und Empfehlungen der Fachgesellschaften stützen. Zur psychosozialen Unterstützung von Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen sind Empfehlungen u.a. von der DIVI und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) erstellt worden.

Neitzke sieht die Kommunikation mit dem Team und den Angehörigen über das Beenden der Therapie als ganz besondere Herausforderung. „Ich wünsche mir Fairness und Ehrlichkeit im Gespräch darüber und dass sich nicht jemand brüllend mit ‚mein Patient wird behandelt‘ durchsetzt – sollten wir an diesen Punkt kommen.“ 

Ungelöst bleibt das Problem der emotionalen Belastung. „Was machen wir da eigentlich mit uns selbst in einem Mangel, den wir nicht verursacht haben? Dass die 4. Welle überhaupt stattfindet, ist eine Folge von Nicht-Geimpften und eine Folge von im Sommer verschleppten politischen Entscheidungen“, schloss Neitzke.