Personalisierte Medizin bei Krebs

Präzisionsonkologie: Wer, wann und wo?

Die Krebserkrankung verschiedener Patienten wird genau untersucht. Anhand der Ergebnisse wird dann die passende Behandlung ausgewählt.
Präzisionsmedizin durch Biomarker © Krebsinformationsdienst, DKFZ, erstellt mit BioRender.com

Das Ziel: Krebspatientinnen und –patienten soll in jeder Situation die wirksamste Therapie mit den wenigsten Nebenwirkungen angeboten werden können. Wie weit ist die Onkologie dabei inzwischen?

Tumor ist nicht gleich Tumor – das wird durch die rasanten Fortschritte in der molekularen Diagnostik immer deutlicher. Mittlerweile können Tumoren umfassend charakterisiert werden, im Extremfall bis auf Einzelzell-Niveau.

Durch umfassende Analysen der Gene, der Genaktivität, der Proteinzusammensetzung oder der Stoffwechselprodukte kann praktisch jede Eigenschaft der Krebszellen in überschaubarem Zeitrahmen und zu inzwischen vertretbaren Kosten beleuchtet werden. Doch für wen könnte das nützlich sein, und wer sind geeignete Ansprechpartner?

Präzisionsmedizin durch Biomarker

Die sogenannte personalisierte Krebsmedizin oder Präzisionsonkologie ist letztlich eine Biomarker-gesteuerte Behandlung. Man sucht auf der einen Seite nach bestimmbaren Parametern, die prognostische Aussagen zum voraussichtlichen Verlauf einer Krebserkrankung erlauben. Auf der anderen Seite können prädiktive Biomarker Rückschlüsse darauf zulassen, ob die Erkrankung voraussichtlich auf bestimmte Therapien ansprechen wird. Inzwischen gibt es auch schon erste Biomarker zur Vorhersage von Nebenwirkungen.

Biomarker werden einzeln schon länger genutzt: Neben Markern aus der “klassischen” Pathologie wie dem histologischen Grading von Tumoren werden bereits seit Jahren auch molekulare Biomarker eingesetzt, um die Therapie und das Monitoring von Krebsbetroffenen zu optimieren. Beispiele sind Mutationen im Gen für den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor EGFR bei Lungenkrebs oder die Überexpression des HER2-Proteins bei Brust- oder Magenkrebs, aber auch die klassischen Tumormarker wie CEA oder CA 19-9.

Von der Einzelanalyse zum Gesamtüberblick: Durch die technologischen Fortschritte der letzten Jahre erweitert sich die Skala der diagnostischen Möglichkeiten erheblich: Innerhalb kurzer Zeit und zu relativ geringen Kosten können heute ganze Gen-Panels mit mehreren Hundert Genen, die Gesamtheit der “kodierenden” Erbgutabschnitte (Exom) oder auch das gesamte Genom sequenziert werden. Auch Gen- und Proteinexpressions-Signaturen lassen sich erstellen. Man spricht bei solchen umfassenden Analysen auch von Omics-Analysen: Genomics (Gene), Transcriptomics (RNA), Proteomics (Eiweiße) oder sogar Metabolomics (Stoffwechselprodukte).

Vorteile globaler Analysen: Ausgedehnte Analysen ermöglichen zum einen, viele Biomarker gleichzeitig zu bestimmen. Das spart Zeit und senkt die Gefahr, dass relevante Veränderungen übersehen werden. Zum anderen können komplexere und damit möglicherweise aussagekräftigere Biomarker entwickelt werden. Ein Beispiel sind die “Biomarker-Tests”, die bereits heute bei bestimmten Brustkrebspatientinnen dazu eingesetzt werden, um das Rückfallrisiko und damit die Notwendigkeit einer (neo-)adjuvanten Chemotherapie genauer zu bestimmen.

Präzisionsmedizin: Wann wird sie genutzt?

Einzelne Biomarker oder “Sets” von mehreren Biomarkern werden bereits bei vielen Krebserkrankungen regelhaft gezielt analysiert, um die Therapie möglichst wirksam und/oder nebenwirkungsarm zu gestalten. Die Untersuchung dieser Biomarker ist bei der jeweiligen Krebserkrankung dann Standard. Ein “Paradebeispiel” ist die Analyse eines Panels möglicher Risikogene beim nicht-kleinzelligen Lungenkrebs. Sie kann Hinweise auf zielgerichtete Therapien geben, die für den betreffenden Patienten möglicherweise infrage kommen.

Omics-basierte Therapien

Umfassende Biomarker-Analysen wie eine Exom- oder Genomsequenzierung werden an spezialisierten Zentren bzw. im Rahmen strukturierter Programme bisher vor allem dann durchgeführt, wenn für eine Patientin oder einen Patienten keine Therapie mit belegter Wirksamkeit (mehr) zur Verfügung steht. Dann kann mit Hilfe einer ausgedehnten Biomarker-Suche möglicherweise doch noch eine erfolgversprechende Therapie für die Betroffenen gefunden werden.

Der Grund für die Beschränkung: Die Therapien, die sich aus solchen Analysen ergeben, müssen vielfach noch als experimentell angesehen werden. Ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit wurde bei der entsprechenden Krebserkrankung bzw. Erkrankungssituation noch nicht in hochwertigen klinischen Studien gezeigt. Der mögliche Nutzen und Schaden kann darum schlechter eingeschätzt werden als bei den etablierten Therapien. Die Arzneimittel müssen meist “off label” eingesetzt werden.

Mögliche Ausnahmen: Erste Medikamenten-Zulassungen sind “nur” auf einen Biomarker und nicht auf eine einzelne Krebserkrankung zugeschnitten. In Europa sind das die sogenannten NTRK-Inhibitoren. Man spricht hier auch von “tumoragnostischen” Zulassungen. Häufig wirken solche Medikamente bei nachgewiesenem Biomarker bei vielen Krebserkrankungen gut. Das muss aber nicht immer der Fall sein.

Nicht in jedem Fall erfolgreich: Betroffene und Ärzte müssen sich dessen bewusst sein, dass eine Omics-Analyse keine Garantie für eine neue Behandlungsoption bietet: In manchen Fällen wird keine mögliche Zielstruktur identifiziert und/oder es kann kein passendes Medikament angeboten werden.
In den bisherigen Veröffentlichungen zum “personalisierten” Einsatz von Krebsmedikamenten bei Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung sprach die Erkrankung in bis zu etwa 70 Prozent der Fälle auf die letztendlich ausgewählte Therapie an.

Präzisionsmedizin: Individueller Heilversuch oder Studie?

Basket- und Umbrella-Studien

In Basket-Studien werden Patienten mit unterschiedlichen Krebserkrankungen, aber gleichen Biomarkern zusammengefasst.

In Umbrella-Studien erhalten Betroffene mit der gleichen Krebserkrankung, aber unterschiedlichen Biomarkern verschiedene Therapien.

Immer häufiger können Patientinnen und Patienten infolge der ausgedehnten molekularen Analysen ihrer Erkrankung in eine klinische Studie aufgenommen werden. Für die Betroffenen, aber auch aus der Perspektive künftiger Betroffener, kann dies aus verschiedenen Gründen sehr hilfreich sein:

  • Bei einer Studienteilnahme muss das einzusetzende Medikament nicht erst individuell bei der Krankenkasse beantragt werden.
  • Die Betreuung und Dokumentation ist gut.
  • In aller Regel können mehr Erkenntnisse aus der Behandlung gezogen werden als bei einer Serie von individuellen Heilversuchen.

Typische Studienkonzepte sind hier Basket- und Umbrella-Studien (siehe Infokasten).

Mehr Wissen um biologische Zusammenhänge: Insbesondere durch die Omics-Analysen können im Rahmen von Studien und strukturierten Programmen zusätzliche Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Prozesse bei Krebsentstehung und -progression wie zusammenwirken. Mithilfe solcher Daten können beispielsweise mögliche Resistenzmechanismen aufgedeckt werden, wenn Tumoren trotz Nachweis eines prädiktiven Biomarkers nicht beziehungsweise nicht mehr auf die ausgewählte Therapie ansprechen. So könnte die Therapieauswahl in Zukunft weiter verbessert werden: Es kann dann eine andere Therapie ausgewählt oder eine zusätzliche Therapie gegeben werden, um diese Resistenz aufzuheben.

Präzisionsmedizin: Wer kann das?

Experten raten dazu, die Betroffenen an qualifizierte Zentren zu überweisen, die bereits viel Erfahrung mit der personalisierten Behandlung von Krebs haben und die hierzu nötigen Strukturen aufgebaut haben.

Das müssen die Zentren können: Die Auswahl einer geeigneten Therapie anhand ausgedehnter Omics-Analysen erfordert zum einen die Möglichkeit zur technisch hochqualitativen Durchführung der geforderten Untersuchungen. Zum anderen müssen an der Auswertung der Daten und der anschließenden Entscheidungsfindung über die “normalen” interdisziplinären Tumorboards hinaus weitere Experten beteiligt werden, beispielsweise aus dem Bereich der Molekulargenetik. Auch eine rege Beteiligung eines Zentrums an klinischen Studien kann aus den oben genannten Gründen von Vorteil sein.

Geeignete Ansprechpartner: Einige Kliniken bieten inzwischen sogenannte molekulare Tumorboards an. Diese Information findet sich häufig bereits im Internet, kann aber gegebenenfalls auch bei der jeweiligen Klinik erfragt werden. Einzelne Kliniken bieten spezielle strukturierte Programme zur Präzisionsmedizin, in die Betroffene aufgenommen werden können. Manche Zentren haben sich auf die präzisionsonkologische Behandlung bestimmter Krebsentitäten fokussiert.

Beispiele:

  • Ein Vorreiter der Präzisionsonkologie in Deutschland war und ist das MASTER-Programm (Molecularly Aided Stratification for Tumor Eradication Research), das 2012 am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg etabliert wurde. Am MASTER-Programm sind inzwischen auch die Zentren des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) und weitere von der deutschen Krebshilfe geförderte Onkologische Spitzenzentren mit insgesamt weit über 100 Netzwerk-Partnern beteiligt.
  • Im Jahr 2019 wurde in Baden-Württemberg zudem ein Verbund von Zentren für Personalisierte Medizin gegründet (ZPM). Derzeit gibt es 4 Zentren: Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm.
  • Während die oben genannten Angebote entitätenübergreifend sind, haben sich die Zentren des Nationalen Netzwerks Genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM) auf die Biomarker-gestützte Therapie von Lungenkrebs spezialisiert. Das nNGM baut auf dem 2010 in Köln gegründeten Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (NGM) auf.
  • Im seit 2015 laufenden bundesweiten Projekt “Individualisierte Therapie für Rückfälle von bösartigen Tumoren bei Kindern”, kurz INFORM, geht es darum, Kindern und Jugendlichen mit Krebsrückfall neue Behandlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Das Projekt hat inzwischen über 100 Projektpartner.

Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf die vollständige Darstellung aller entsprechenden Initiativen in Deutschland.

Präzisionsonkologie: Und die Kosten?

Insbesondere an den spezialisierten Zentren wie den Zentren für Personalisierte Medizin oder den Zentren des nNGM gibt es bereits Regelungen für die Kostenübernahme der Diagnostik. Dazu kommen an diesen Zentren vereinfachte Strukturen, um den Off-Label-Einsatz der benötigten Medikamente zu beantragen.

Außerhalb dieser Netzwerke müssen in der Regel Einzelanträge bei der jeweiligen Krankenkasse nach dem üblichen Verfahren gestellt werden.

Präzisionsonkologie: Wie geht es weiter?

Gemeinsames Ziel von Politik und Medizin in Deutschland und in ganz Europa ist es, die Regelversorgung der Krebspatienten weiter zu verbessern. Dazu gehört auch, personalisierte Behandlungsansätze deutschlandweit in hoher Qualität anbieten zu können.

Projekte zur weiteren Verbesserung des Angebots laufen:

  • Vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) wird zum Beispiel derzeit ein Projekt mit über 20 Millionen Euro gefördert: In Zusammenarbeit zwischen den 4 Zentren für Personalisierte Medizin und den 9 sogenannten Comprehensive Cancer Centers (CCCs) in Deutschland soll das Deutsche Netzwerk für Personalisierte Medizin (DNPM) etabliert werden. Ziel des Netzwerks sind einheitliche Standards für die personalisierte Diagnostik und Therapie in den beteiligten Zentren.
  • Ein weiteres Beispiel ist die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Initiative genomDE, die seit Oktober 2021 läuft. An dem Projekt nehmen spezialisierte Zentren, aber auch Patientenorganisationen teil. Mit dem Aufbau einer bundesweiten Plattform als Basis soll die Genommedizin letztlich in die allgemeine Gesundheitsversorgung integriert werden. Ein entsprechendes fünfjähriges Modellvorhaben “Genomsequenzierung” nach § 64e SGB V startet ab Januar 2023.

Nutzen in früheren Erkrankungssituationen wird geprüft: Derzeit laufen erste Studien, in denen der Nutzen umfangreicher molekularer Analysen auch in frühen Erkrankungssituationen untersucht wird. Diese Studien wenden sich an Betroffene, bei denen von einem erhöhten Rückfallrisiko unter der Standard-Therapie ausgegangen wird. Ein Beispiel ist die Heidelberger COGNITION-Studie: Brustkrebspatientinnen, die nach der neoadjuvanten Behandlung noch einen Resttumor haben, erhalten hier nach der Operation zusätzliche Biomarker-gestützte Therapien.

Angebote auch für andere Erkrankungen: Nicht nur Krebsbetroffene können von einer individuell zugeschnittenen Therapie profitieren. In nationalen und internationalen Forschungsverbünden wie der Helmholtz-Initiative iMed arbeiten Expertinnen und Experten aus der Onkologie beispielsweise intensiv mit anderen Fachrichtungen wie dem Bereich der Neurodegenerativen Erkrankungen zusammen. Und auch im Modellvorhaben “Genomsequenzierung” geht es neben den onkologischen um weitere, seltene Erkrankungen.

Dank dieser und weiterer Initiativen und Angebote könnte in Zukunft für viele Patientinnen und Patienten eine noch besser auf die individuelle Erkrankung angepasste Therapie zur Verfügung stehen.

© Krebsinformationsdienst