Neue Regeln für das Definieren von Krankheiten gefordert

Thomas Kron Medizinische Nachrichten 14.04.2019

Kernbotschaften

Neue Regeln zur Definition von Krankheiten fordern der australische Journalist Dr. Roy Moynihan und mehrere Allgemeinmedizinern. Hausärzte und Patienten sollen bei diesem Prozess eine deutlich größerer Rolle spielen als Experten, deren wissenschaftliches Urteil nicht selten durch Kontakte zur pharmazeutischen oder medizintechnischen Industrie beeinflusst werde. Ziel der Gruppe ist, das Problem der Überdiagnosen und Übertherapien zu mildern, das ihrer Ansicht nach eine Folge falscher Krankheitsdefinitionen sei. Auf das ebenfalls seit Jahrzehnten beklagte Problem der Unterdiagnostik und Untertherapie gehen Moynihan und seine Mitautoren, darunter Professor Thomas Kühlein vom Universitätsklinikum Erlangen, nicht ein.

Krankheits-Erfindung zum Schaden der Patienten

Aufgrund von immer breiteren Krankheitsdefinitionen würden aus vielen zuvor gesunden Menschen quasi über Nacht Kranke, argumentieren die Autoren in dem britischen Fachblatt „BMJ Evidence-Based Medicine“. Nur ein Beispiel für dieses Problem sind die aktuellen Blutdruck-Grenzwerte der US-amerikanischen Fachgesellschaften. Jene Experten, die neue Krankheitsdefinitionen formulierten, hätte oft enge Kontakte zu pharmazeutischen oder medizintechnischen Unternehmen, die von neuen Definitionen und daraus folgenden neuen Diagnose- oder Therapie-Empfehlungen profitierten. Eine Folge sei, dass Patienten einem erhöhten Risiko ausgesetzt würden, durch überflüssige diagnostische oder therapeutische Eingriffe wirklich krank zu werden. 

Mehr Hausärzte statt Experten

Moynihan und seine Kollegen schlagen nun unter anderem vor, dass bei der Definition von Krankheiten (und damit bei der Erstellung von Leitlinien) deutlich mehr als bisher auf mögliche gesundheitliche Schäden durch Überdiagnostik und Übertherapie geachtet wird. Der Prozess sollte unabhängig von kommerziellen Interessen sein. In diesem Prozess sollten Allgemeinmediziner und Hausärzte eine maßgebliche Rolle spielen; Spezialisten hingegen sollten beratende Funktion haben. Darüber hinaus schlagen die Autoren auch die grundsätzliche Beteiligung von Bürgern vor. Die Beteiligten müssten frei von kommerziellen Interessen sein.

Ein altbekanntes Thema: „Krankheits-Erfindung“

Das Thema Unterdiagnostik und Untertherapie wird nicht angesprochen. Wahrscheinlich halten die Autoren um Moynihan Überdiagnostik und Übertherapie für die größeren Probleme. Insbesondere Moynihan beschäftigt sich schon seit Jahren damit. Bekannt wurde er vor allem durch einen 2002 publizierten Aufsatz im „British Medical Journal“ mit dem Titel „Selling sickness: the pharmaceutical industry and disease mongering“. Seitdem hat Moynihan mehrere Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht, so etwa 2013 eine Analyse von 16 Leitlinien. Die Hauptbotschaften von Moynihan lauteten: Viele Leitlinien fördern das, was seit Jahren als „Krankheits-Erfindung“ oder auch „disease mongering“ bezeichnet wird. Und: Viele Leitlinien-Autoren hätten finanzielle Beziehungen zu genau den Arzneimittelfirmen, die Präparate für die Indikationen hätten, um die es in den jeweiligen Leitlinien gehe („Plos Medicine“).

Finanzierung: Keine Angaben.

  • Referenzen

Ray Moynihan et al: Reforming disease definitions: a new primary care led, people-centred approach; BMJ EBM; DOI: 10.1136/bmjebm-2018-111148