Kontroverse um die Impfpflicht: Was dafür und was dagegen spricht

  • Christian Beneker
  • Dr. med. Thomas Kron
  •  Aktuelles by Medscape
  •  08.08.2021

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in seinem Land die Impfpflicht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen und beim Pflegepersonal in Pflegeheimen durchgesetzt. In Russland müssen Arbeitgeber nachweisen, dass mindestens 60% ihrer Belegschaft geimpft ist, England verpflichtet die Pflegekräfte in Heimen zur Impfung gegen das Coronavirus.

In Deutschland dagegen lehnt die Politik die allgemeine Impfpflicht weiterhin ab, auch wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Pflicht für Pflegekräfte erst kürzlich aufs Tapet gebracht hat. Welche sind die wichtigsten Gründe für die Pflicht zur Corona-Impfung – und welche sprechen dagegen?

Pro Impfpflicht

Impfen hilft erwiesenermaßen. Masern, Grippe, Diphtherie oder Kinderlähmung können durch entsprechende Impfungen wirksam bekämpft oder konnten sogar ganz ausgerottet werden. 1979 erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Pocken für ausgerottet. Dies war Ergebnis einer Impfpflicht gegen Pocken auch in Deutschland. Mitte der 1970er-Jahre wurde sie in Deutschland aufgehoben.

Die Impfungen von Kindern gegen Diphtherie haben die Krankheit in Deutschland weit zurückgedrängt. Laut Robert Koch-Institut (RKI) konnte die Polio-Impfung die Polio-Fälle heute im Vergleich zu den 1980er-Jahren um 99,9% verringern. Seit 2002 ist Europa von der WHO als Polio-frei zertifiziert. Mit verpflichtenden Impfungen könnte dies auch ein Fernziel für die Corona-Impfungen sein.

Impfen minimiert die Gefährdung anderer. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits auf Eilanträge gegen die Masern-Impfung das Argument gebracht, dass „Impfungen gegen Masern (…) nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern (…). Auf diese Weise können auch Personen geschützt werde, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe bei einer Infektion drohen.“ Dieses Argument dürfte auch für Corona-Impfungen gelten. In Sachen Impfung gilt: Es geht um gesellschaftliche Solidarität.

Vision von der Herdenimmunität: Wenn sich alle impfen ließen und eine Herdenimmunität hergestellt wäre, würde das Virus bedeutungslos werden. Doch nach jüngsten Hochrechnungen bräuchte es dazu eine Durchimpfungsrate in der Bevölkerung von 85%. Viele Experten halten diesen Wert inzwischen für sehr schwer zu erreichen. 

Contra Impfpflicht

Nebenwirkungen sind nicht 100%tig auszuschließen. Weil die Impfstoffe in zu kurzer Zeit entwickelt und getestet wurden, seien die Folgen unabsehbar, bemängeln Kritiker der Impfung und einer Impfpflicht. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) spricht zwar nur von leichten Reaktionen innerhalb von höchstens 2 Tagen nach der Impfung. Aber wie sich eventuelle Langzeitfolgen ausnehmen werden, liegt tatsächlich im Dunkeln. Andererseits dürften mit kaum einem Impfstoff so umfangreiche Erfahrungen gemacht worden sein, wie mit den Impfstoffen gegen eine Corona-Infektion.

Auch Geimpfte sind vielleicht weiter ansteckend. Dass Geimpfte überhaupt nicht mehr ansteckend sind, ist zumindest für die Impfstoffe BioNTech/Pfizer und Moderna nicht nachgewiesen. Geimpfte sind damit nur klinisch immun, nicht aber steril immun. Nicht Geimpfte dürften infolgedessen nicht als Gefährdung anderer betrachtet werden. Ihr Verhalten wäre dann wohl auch nicht in jedem Fall unsolidarisch, weil laut RKI noch nicht quantifiziert sei, „in welchem Maß die Impfung (…) die Übertragung des Virus weiter reduziert“.

Die Impfpflicht greift zu stark in die Grundrechte und die individuelle Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ein. Ist die Pandemie Grund genug, die individuelle bürgerliche Freiheit zu begrenzen? Das Grundgesetz garantiert: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2). Dieses Recht kann aber unter Umständen hintangestellt werden, so das Grundgesetz. Denn zwar heißt es, „die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Aber der Text fährt fort: „In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Tatsächlich existiert aber bisher keine Rechtsgrundlage für eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) sieht eine Impfpflicht nur gegen Masern vor. Eine Impfpflicht gegen Corona könnte sich nicht auf das IfSG berufen, weil es Impfungen nur für „bedrohte Teile der Bevölkerung“ anordnen könnte. Kurz: Eine allgemeine Impfpflicht zur Herstellung einer Herdenimmunität müsste der Bundestag beschließen.

Die Alternativen zur allgemeinen Impfpflicht

Und wäre die Impfpflicht nur für bestimmte Gruppen eine Lösung, also nur etwa für Gesundheitspersonal oder Lehrkräfte? Die Vorsitzende des deutschen Ethikrates, Prof. Dr. Alena Buyx, spricht sich auch in diesen Fällen gegen die Impfpflicht aus. Zwar habe der Ethikrat sich vorsichtig einer berufsbezogenen Impfpflicht in sehr engen Grenzen geöffnet, sie aber nur unter bestimmten Umständen befürwortet. „Allerdings würde ich sagen, dass diese Umstände gar nicht zutreffen“, sagte Buyx am 13. Juli der ARD-Tagesschau. Die Impfraten seien in Deutschland bei den meisten in Frage kommenden Berufsgruppen gut. „Beim Gesundheitspersonal und bei den Lehrerrinnen und Lehrern habe wir wirklich super Impfraten“, sagte Buyx.

Die Juristin Prof. Dr. Johanna Wolff von der Freien Universität favorisiert emotionalisierend vermittelte Informationen über die Impfung. Denn das IfSG ermögliche, „die Bevölkerung zielgruppenspezifisch über die Bedeutung von Schutzimpfungen“ zu informieren. Allerdings distanziert sich Wolff von Schockbildern, wie sie etwa auf Zigarettenschachteln zu sehen sind.

Zusätzlich zur Information könne es auch hilfreich sein, die Schwelle zu senken und den Weg zur Impfung breiter und bequemer zu machen. In Berlin hat man damit bereits begonnen. Dort wird die Corona-Impfung auch in einer IKEA-Filiale angeboten. Eine allgemeine Impfpflicht sei das schwerwiegendste Instrument, um die Durchimpfungsrate zu steigern, sagt Wolff. Aber keineswegs das einzige.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.