Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologisch erkrankten Patienten

Clinical practice guideline: Complementary medicine in the treatment of cancer patients

Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 654-9; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0277

Hübner, Jutta; Beckmann, Matthias; Follmann, Markus; Nothacker, Monika; Prott, Franz Josef; Wörmann, Bernhard

Hintergrund: Im Durchschnitt nutzt circa die Hälfte aller Patienten mit einer Krebserkrankung während oder nach der Tumortherapie mindestens eine komplementärmedizinische Methode. Am häufigsten verwenden sie Mikronährstoffe, Nahrungsergänzungsmittel und Pflanzenextrakte.

Methode: Systematische Literaturrecherche in den Datenbanken Medline, Cochrane Library Embase, PsycInfo und Cinahl.

Ergebnisse: Die Evidenz ist häufig gering in Bezug auf den Nachweis eines Einflusses komplementärer Methoden auf patientenrelevante Endpunkte wie Linderung von Krankheitssymptomen, Reduktion therapieassoziierter Nebenwirkungen oder Verlängerung der Überlebenszeit. Zur Einnahme von Mikronährstoffen liegen unterschiedliche Dosierungsangaben und Zusammensetzungen vor. Das Problem der meisten Studien zur Verwendung von Vitaminen und Spurenelementen in der Onkologie besteht darin, dass keine Bestimmungen der Ausgangsspiegel durchgeführt werden und deshalb oft unklar ist, ob ein Mangel vorliegt. Vor diesem Hintergrund können keine sicheren Aussagen über Effekte für diese Substanzen getroffen werden, und in den meisten Fällen kann eine Einnahme nicht empfohlen werden. Die Evidenz für körperliche Aktivität bei Patienten mit einer Tumorerkrankung während und nach einer Therapie ist dagegen hoch. Das Mortalitätsrisiko sinkt bei höherer körperlicher Aktivität sowohl vor als auch nach einer Krebsdiagnose für alle Krebsarten (Aktivität bereits vor der Diagnose: Hazard Ratio [HR]:  0,82 [95-%-Konfidenzintervall] [KI]: [0,79; 0,86]), Aktivität nach der Diagnose: HR: 0,63 (95-%-KI: [0,53; 0,75]). Onkologisch erkrankten Patienten soll deshalb körperliche Aktivität unter und nach Abschluss der Krebstherapie empfohlen werden.

Schlussfolgerung: Die wesentliche Chance der komplementären Medizin ist das Patienten-Empowerment – die Möglichkeit für Patienten, selbst in der Zeit der Tumortherapie und danach aktiv zu werden. Um Risiken zu vermeiden, sollen Patienten über unsichere Methoden aufgeklärt, wiederholt hierzu befragt und gezielt auf mögliche Interaktionen zwischen diesen Anwendungen und der Krebstherapie hingewiesen werden.

Die Begriffe „Komplementärmedizin“ und „Alternativmedizin“ werden in der Praxis oft synonym verwendet und unter dem Ausdruck „komplementäre und alternative Medizin“ (KAM) zusammengefasst. Zu unterscheiden sind beide Begrifflichkeiten in dem Kontext, in dem sie angewendet werden: Alternativmedizin versteht sich als eine Alternative zur konventionellen Behandlung. Komplementäre Verfahren werden hingegen parallel zur konventionellen Therapie angewendet und unterscheiden sich von alternativen Verfahren dadurch, dass sie sich als Ergänzung zu konventionellen Verfahren sehen.

Eine eindeutige Abgrenzung, welche Methoden unter alternative und welche unter komplementäre Medizin fallen, ist hierbei oft kaum möglich, da die meisten Verfahren und Methoden in beiden Kontexten angewendet werden.

Das Interesse von Patienten mit einer Tumorerkrankung an komplementärer Medizin ist hoch. Im Durchschnitt nutzt circa die Hälfte eine dieser Methoden. Ein häufiges Motiv ist der Wunsch, selber aktiv zu werden. Darin sollten sie unterstützt werden – unter Berücksichtigung eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Bei substanzgebundenen Verfahren ist die Frage nach Wechselwirkungen sehr wichtig. Bei den anderen geht es auch darum, Patienten vor Methoden ohne Wirksamkeitsnachweis zu schützen, für die sie Zeit und/oder Geld investieren. Darüber hinaus ist es gut belegt, dass Patienten, die im Rahmen eines Placeboeffekts positive Erfahrungen mit an sich unwirksamen Methoden gemacht haben, auch im Fall einer ernsthaften Tumorerkrankung zunächst dazu neigen, nach solchen Methoden zu greifen (e1, e2, e3, e4) und damit wertvolle Zeit für die wirksame Therapie verstreichen lassen.

Die Leitlinie beschäftigt sich mit komplementären Maßnahmen, die ergänzend zu einer organspezifischen leitliniengerechten Behandlung eingesetzt werden können.

Methode

Als Vorlage für das methodische Vorgehen fungierte das Regelwerk der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) für S3-Leitlinien (1). In die Ersterstellung dieser S3-Leitlinie wurde unter Koordination der federführenden Fachgesellschaften Deutsche Krebsgesellschaft (DKG), Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO) und Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) eine repräsentative Gruppe von 46 Fachgesellschaften und Institutionen, inklusive Patientenvertretern miteinbezogen. Die methodische Begleitung erfolgte durch das Office des Leitlinienprogramms Onkologie und das AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement. Zur Beantwortung der Schlüsselfragen wurde nach systematischen Übersichtsarbeiten und Primärstudien recherchiert in den Datenbanken Medline, Cochrane Library Embase, PsycInfo und Cinahl. Die Literatur wurde nach den PRISMA-Kriterien ausgewertet (PRISMA, Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses).

Aus den Treffern wurden 445 relevante Studien ausgewählt (Grafik). Die kritische Bewertung der eingeschlossenen Studien im Hinblick auf ihre Aussagesicherheit erfolgte gemäß des „levels of evidence 1“-Dokuments des Oxford Centre for Evidence-Based Medicine aus 2009 (e5). Die Daten wurden in Evidenztabellen extrahiert. Auf dieser Grundlage wurden Empfehlungen abgestimmt und Hintergrundtexte formuliert.

Grafik

Recherche-Flowchart der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischer PatientInnen“; KAM, komplementäre und alternative Medizin

Im Folgenden gehen wir ein auf die zentralen Empfehlungen zu

  • biologisch basierten Therapien (damit sind Mikronährstoffe, Phytotherapeutika und anderen Substanzen gemeint, die in den Körper eingebracht werden)
  • körperorientierten Therapien.

Eine Übersicht über alle in der Leitlinie enthaltenen komplementärmedizinischen Methoden und Indikationen findet sich als Kurzfassung in der Tabelle.

Tabelle

Komplementäre Methoden und Empfehlung mit Empfehlungsgrad „soll/sollte“ in Bezug auf Therapieziele

Ergebnis

Insgesamt enthält die neu erstellte Leitlinie (2) 94 Empfehlungen, von denen 83 evidenzbasiert sind. Die übrigen Empfehlungen beruhen auf Expertenkonsens (EK). Zusätzlich wurde ein Fragebogen entwickelt, der regelmäßig bei Patienten während onkologischer Therapien ausgegeben wird und dabei helfen soll, gezielt den Beratungsbedarf zu erfassen und Patienten auf potenzielle Interaktionen hinzuweisen (ePatientenfragebogen).

Mikronährstoffe

Das Problem der meisten Studien zu Vitaminen und Spurenelementen in der Onkologie besteht darin, dass meistens keine Ausgangsspiegelbestimmungen vorliegen und nicht nur Patienten mit einem Mangel substituiert wurden. Bei den sekundären Pflanzenstoffen liegen keine Normwerte vor – bekannt ist die in der Regel sehr geringe Bioverfügbarkeit.

Selen

Zu unterscheiden ist zwischen organischen (Selenhefe beziehungsweise Selenmethionin) und anorganischen Selenverbindungen (zum Beispiel Natriumselenit). Die Einnahme organischer Formen kann rasch zu einer Überdosierung führen.

Zwei randomisierte Studien zeigen eine protektive Wirkung von Natriumselenit auf radiotherapieassoziierte Nebenwirkungen bezüglich der Mukosa im Kopf-Hals- beziehungsweise Beckenbereich bei Patienten/Patientinnen mit fortgeschrittenen Kopf-Hals-Tumoren beziehungsweise Gebärmutter- oder Gebärmutterhalskrebs mit Selendefizit. In der Studie von Büntzel et al. 2010 (3) zeigte sich ein geringerer Mittelwert für die Dysphagie in der siebten Bestrahlungswoche (1,533 versus 2,167; p = 0,05). In der Studie von Mücke et al. 2013 (4) trat eine Diarrhö Grad 2 oder mehr im Interventionsarm bei 20,5 % versus 44,5 % im Kontrollarm auf (p = 0,04).

Die Gabe von Natriumselenit kann in diesen Indikationen zur Protektion erwogen werden.

Vitamin C

Vitamin C wird als sogenanntes hochdosiertes Vitamin C im Grammbereich gegeben mit dem Ziel, die Nebenwirkungen einer Tumortherapie zu vermindern oder direkt auf das Tumorwachstum einzuwirken. Daten aus einer Metaanalyse sprechen gegen eine solche Wirkung (5). Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass die orale Einnahme von Vitamin C die Wirkung von Chemo- oder Strahlentherapien vermindert (e6). Aus diesem Grund gibt es eine „soll nicht“-Empfehlung zur Verabreichung von oralem Vitamin C in höheren Dosierungen bei onkologisch erkrankten Patienten. Für hochdosiertes intravenöses Vitamin C ist die Datenlage unzureichend.

Vitamin D

Vitamin D hat bei onkologisch erkrankten Patienten nicht nur eine Bedeutung in Bezug auf eine Verminderung des Osteoporoserisikos. Um Mangelzustände zu erkennen, sollten 25-OH-Vitamin-D-Spiegelmessungen durchgeführt werden.

Laut Robert Koch-Institut leiden 15 % der Erwachsenen an einer mangelhaften Vitamin-D-Versorgung mit einer 25(OH)D-Serumkonzentration unter 30 nmol/L (unter 12 ng/mL) und weitere 41 % haben suboptimale Serumwerte zwischen 30 und 50 nmol/L (12 und 20 ng/mL) (6).

Die Wirksamkeit von Vitamin D im Hinblick auf das Gesamt- oder progressionsfreie Überleben wurde in drei randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) mit Patienten mit Prostatakrebs (789) und in einer kleinen randomisierten Studie mit Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren (10) untersucht. Alle Studien weisen methodisch Mängel auf, sodass die Aussagekraft der Evidenz als unzureichend einzustufen ist.

Drei weitere randomisierte kontrollierte Studien betrachteten primär aromatasehemmerassoziierte muskuloskelettale Symptome bei Brustkrebs (111213). Hier sind die Daten widersprüchlich, sodass die Leitlinie weder eine Empfehlung für noch gegen eine Vitamin-D-Gabe, die über die Kompensation eines Mangels hinausgeht, bei diesen Patienten gibt.

Vitamin E

Ähnlich wie beim Vitamin C wurden hier die Hinweise auf einen möglichen Schaden bei fehlendem nachgewiesenem Nutzen zu einer negativen Empfehlung zusammengefasst: Vitamin E soll beziehungsweise sollte nicht zur Beeinflussung des Gesamt- beziehungsweise progressionsfreien Überlebens (1415) oder zur Vorbeugung und Therapie von chemotherapieinduzierter Polyneuropathie (16) oder oraler Mukositis (151718) gegeben werden.

Phytotherapeutika

Neben Mikronährstoffen stellen Phytotherapeutika die zweite große Gruppe der biologisch basierten Substanzen dar, die von Patienten mit einer Tumorerkrankung genutzt werden. Sie sind in Deutschland teilweise als Medikamente, teilweise als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Deshalb sollte die unterschiedliche Qualität der Herstellungsprozesse und Präparate beachtet werden. Häufig finden sich auch stark unterdosierte oder homöopathische Präparate, die den Wirkstoff in nicht wirksamer Konzentration oder gar nicht mehr enthalten.

Ingwer

Zu Ingwer wurden zwei ältere systematische Reviews mit insgesamt acht RCTs und neun neuere RCTs hinsichtlich seiner Wirkung auf zytostatikainduzierte Übelkeit/ Erbrechen bewertet. Die meisten Studien sind methodisch unzureichend. In der Gesamtschau, insbesondere der methodisch besseren Studien (1920), wurde formuliert, dass Ingwer zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese in der Therapie von zytostatikainduzierter Übelkeit/Erbrechen bei diesen Patienten erwogen werden kann. Bei einer Subgruppe von Patienten, die mehrheitlich mit niedrig- und moderat emetogener Chemotherapie behandelt worden war, war die Übelkeit bei höherer Ingwerdosierung und in Kombination mit Aprepitant stärker ausgeprägt und dauerte länger an (e7). Mit einer Level-2b-Evidenz kann die Einnahme von Ingwer zusätzlich zur leitliniengerechten Antiemese in der Therapie von zytostatikainduzierter Übelkeit/Erbrechen bei diesen Patienten erwogen werden.

Mistel

Es liegen unterschiedliche Ergebnisse aus drei Übersichtsarbeiten/Metaanalysen und einzelnen RCTs zur Wirksamkeit von Mistelgesamtextrakt (Viscum album L.) hinsichtlich der Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit von Patienten mit Krebs verschiedener Entitäten vor. Sie zeigen zum Teil positive Ergebnisse, zum Teil keine statistisch signifikante Wirksamkeit (212223). Das 2020 veröffentlichte systematische Review mit Metaanalyse errechnete zwar eine Verbesserung des Überlebens auf der Basis von 32 Studien (Hazard Ratio [HR]: 0,59; 95-%-Konfidenzintervall [0,53; 0,65], p < 0,0001) (22), jedoch kam bereits ein früheres hochwertiges Cochrane-Review zu der Einschätzung, dass eine Metaanalyse aufgrund der Heterogenität und mangelnden Qualität der Daten nicht sinnvoll ist (23). Unter anderem sind die Berichts- und Durchführungsqualität der eingeschlossenen Studien zum Teil deutlich eingeschränkt und die Definition des „Überlebens“ und die zugrundliegende Messmethodik unterschiedlich. Die Daten reichen für eine klare abschließende Bewertung nicht aus. Deshalb gibt die Leitlinie keine Empfehlung für oder gegen eine Verordnung von Präparaten mit Mistelgesamtextrakt (Viscum album L.) die darauf zielt, die Überlebenszeit zu verlängern.

Es liegen inkonsistente Daten aus systematischen Übersichtsarbeiten/Metaanalysen und RCTs vor, in denen die subkutane Gabe von Mistelgesamtextrakt (Viscum album L.) enthaltenden Arzneimitteln bei Patienten mit soliden Tumoren darauf zielte, die Lebensqualität zu verbessern (2324). Die Mandatsträger stimmten hier für eine Kann-Empfehlung: Die subkutane Gabe von Mistelgesamtextrakt (Viscum album L.) kann für den therapeutischen Einsatz bei Patienten mit soliden Tumoren erwogen werden, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.

Johanniskraut

Johanniskrautpräparate sind konventionellen Medikamenten in der Behandlung der leichten bis mittelschweren Depression nicht unterlegen. Es liegen keine Studien vor, die die Wirksamkeit von Johanniskraut auf die Depressivität von onkologisch erkrankten Patienten untersuchten. Patienten, die auf Wunsch Johanniskraut einnehmen, sollen über das Risiko schwerer Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten hingewiesen werden.

Ketogene Diäten

Krebsdiäten sind seit Jahren unter Patienten mit einer Krebserkrankung weit verbreitet und werden teilweise angewendet, um den Krebs direkt zu bekämpfen („Krebszellen aushungern“), und teilweise, um die Verträglichkeit der Tumortherapie zu verbessern.

Es liegen ein systematisches Review zu Fallserien und Fallberichten (25) und die Daten aus drei RCTs (262728) vor. In allen Studien kommt es zu einem Gewichtsverlust, der nach den Screeningkriterien zur Einschätzung des Ernährungszustands einer Mangelernährung entspricht. Eine ketogene Ernährung soll grundsätzlich nicht bei normalgewichtigen und untergewichtigen Patientinnen empfohlen werden. Studien, die durch ketogene Kost eine Verbesserung des Überlebens belegen, wurden nicht gefunden.

Yoga

Yoga umfasst Richtlinien zu ethischem Verhalten, körperliche Aktivität, Atem-, Konzentrations- und Meditationstechniken. In Deutschland werden sehr unterschiedliche Yogastile angeboten. Es liegen Daten zum Einfluss von Yoga auf die Lebensqualität und belastende Symptome vor. In der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass in vielen Studien nicht genau beschrieben ist, wie sich die Intervention zusammensetzte und wie hoch die Anteile an körperlichen Übungen, Atem- und Meditationstechnik waren. 

Die Ergebnisse zur Verbesserung der globalen und krebsspezifischen Lebensqualität sind inkonsistent (29). Damit wurde von den Mandatsträgern eine Kann-Empfehlung ausgesprochen: Yoga kann zur Verbesserung der globalen und krebsspezifischen Lebensqualität bei diesen Patienten erwogen werden. Zur Senkung von Fatigue sind die Ergebnisse konsistent: Yoga sollte zur Senkung von Fatigue bei diesen Patienten empfohlen werden (2930). Weitere Kann-Empfehlungen wurden zum Einsatz von Yoga bei Ein- und Durchschlafstörungen (29), kognitiven Beeinträchtigungen und menopausalen Symptomen bei Patientinnen mit Brustkrebs (31e8) formuliert.

Körperliche Aktivität

Im Rahmen der Leitlinie wurde zu Sport oder körperlicher Aktivität für die Endpunkte Fatigue und Lebensqualität während der Krebstherapie eine systematische Recherche durchgeführt. Zur Mortalität erfolgte eine Leitlinienadaptation (32) ergänzt um die Daten einer aktuellen Metaanalyse aus 136 Studien. Das Mortalitätsrisiko sank bei höherer Aktivität sowohl vor als auch nach der Diagnose für alle Krebsarten (Aktivität vor der Diagnose: HR:  0,82; [079; 0,86]; Aktivität nach der Diagnose: HR: 0,63; [0,53; 0,75]) (33). Obwohl einschränkend zu berücksichtigen ist, dass es sich bei den Studien nicht um randomisierte kontrollierte prospektive Studien handelt, liegt in der Zusammenschau aller Daten eine gute Evidenz für eine der wenigen starken Empfehlungen in dieser Leitlinie vor: Onkologisch erkrankten Patienten soll körperliche Aktivität unter und nach Abschluss der Krebstherapie empfohlen werden. Das Ziel von mindestens 150 min moderater oder 75 min anstrengender körperlicher Aktivität pro Woche soll so früh wie möglich nach der Diagnose wieder erreicht oder versucht werden, aufrechtzuerhalten.

Für die Trainingsanleitung werden eine Mischung aus Ausdauer-, Kraft-, Koordinations- und Beweglichkeitstraining empfohlen.

Insgesamt wurden 27 systematische Reviews gefunden, die den Effekt von sportlicher Aktivität während einer Krebsbehandlung auf die Lebensqualität und Fatigue untersuchten. Die Metaanalyse von Oberoi et al. 2018 (34) schloss insgesamt 134 randomisierte kontrollierte Studien mit verschiedensten Krebsarten ein und zeigte eine Reduzierung der Fatigue (standardisierte mittlere Differenz [SMD]: −0,49; [−0,60; −0,37]); p < 0,00001, I² = 85 %). In die Metaanalyse zur Lebensqualität wurden sieben Studien mit Patienten mit Prostatakarzinom eingeschlossen (35). Eine Subgruppenanalyse mit drei Studien von hoher Qualität zeigte einen moderat positiven Effekt (SMD: 0,33; [0,08; 0,58]; medianes Follow-up: 12 Wochen; I² = 0 %).

Körperliche Aktivität und Sport sollen mit dem Ziel, die Lebensqualität zu erhalten, und zur Behandlung und Prävention von krebsspezifischer Fatigue empfohlen werden.

Diskussion

Für diese Leitlinie wurden die publizierten Studien sorgfältig recherchiert und in ihrer Aussagesicherheit beurteilt. Es zeigte sich, dass für die meisten Methoden nur wenige wissenschaftliche Daten und nur selten Studien mit einer hohen Aussagesicherheit vorliegen.

Umso wichtiger ist es, Nutzen und Risiken in der Patientenberatung sorgfältig abzuwägen. Während einige Studien auf einen Benefit in Bezug auf bestimmte Nebenwirkungen der onkologischen Therapie oder für die Lebensqualität weisen, gibt es nur in wenigen Studien systematisch erfasste Daten zu potenziellen Schäden in Form von Nebenwirkungen und Interaktionen. Letztere sollten nicht unterschätzt werden, da mehrere Arbeiten darlegten, dass im Durchschnitt bei einem Drittel aller Patienten, die im Rahmen einer komplementären Therapie Substanzen einnehmen, eine Wechselwirkung mit Medikamenten der Tumortherapie wahrscheinlich ist. Hinzu kommt ein weiteres Drittel, bei denen eine Interaktion zumindest möglich erscheint (e9e10e11e12).

Deshalb ist eine zentrale Empfehlung mit hohem Expertenkonsens, dass alle Patienten frühestmöglich und im Verlauf wiederholt zur aktuellen und geplanten Anwendung von komplementären Maßnahmen befragt und gezielt auf mögliche Interaktionen zwischen diesen Anwendungen und der Krebstherapie hingewiesen werden sollen. Interaktionen sind bei komplementären Methoden, die nicht biologisch basiert sind, nicht zu erwarten. Aus diesem Unterschied erklärt sich auch eine scheinbare Inkonsistenz innerhalb der Leitlinie. In den Kapiteln mit potenziell schädigenden Methoden wurde bei Fehlen eines Nutzennachweises in der Regel ein „sollte nicht“ als Empfehlung ausgesprochen, während in den anderen Kapiteln auch bei fehlender Überlegenheit gegenüber einem Placebo oft eine „kann“-Empfehlung steht.

Fazit

Die Komplementärmedizin umfasst ergänzende fakultative Methoden. Sie kann bei guter Abstimmung auf die eigentliche Tumortherapie vor allem mit dem Ziel eingesetzt werden, Lebensqualität der Patienten zu verbessern, ihr Empowerment zu fördern und Nebenwirkungen zu vermindern. Deshalb eignen sich insbesondere Methoden, die von Patienten auch selbstständig durchgeführt werden können.

Nutzen und Risiken müssen abgewogen werden. Um Neben- und Wechselwirkungen zu vermeiden, sind ein regelmäßiges Assessment und gegebenenfalls die Beratung von Patienten erforderlich. Hierbei kann die Patientenleitlinie Ärzte und Pflegekräfte entlasten, insbesondere wenn im eigenen Zentrum beziehungsweise in der eigenen Praxis keine fundierte Beratungsmöglichkeit besteht.

Prof. Dr. med. Jutta Hübner
Klinik für Innere Medizin II
Universitätsklinikum Jena