Erst plagt das Virus, dann das „Hüftgold“

Dr. med. Thomas Kron  Im Diskurs  12.03.2021

COVID-19 und die Pandemie haben, wie zunehmend klar wird, einige hartnäckig anhaltende gesundheitliche Folgen. Dazu zählt – mangels Bewegung und ungesunden Ess- und Trink-Gewohnheiten – unter anderen auch Übergewicht. Das mag zunächst eine überwiegend ästhetische Nebenwirkung der Lockdown-Bestimmungen sein. Aber langfristig könnten die „Corona-Kilos“ die ohnehin schon seit Jahren beklagte „Adipositas-Epidemie“ noch verstärken. Die möglichen gesundheitlichen Folgen von starkem Übergewicht sind hinlänglich bekannt; es drohen kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, Leberzirrhose, Gelenk- und auch Tumor-Erkrankungen, um nur die wichtigsten zu nennen. Dass Lockdown-Maßnahmen auch Folgen für das Körpergewicht haben, hat zum Beispiel das Robert-Koch-Institut (RKI)Ende des vergangenen Jahres berichtet. So hätten die Menschen in Deutschland nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 mehr gewogen als zuvor, so eine RKI-Studie: So habe das mittlere Körpergewicht im Zeitraum April bis August 2019 noch bei 77,1 Kilo gelegen, im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres jedoch bei 78,2 Kilo. Der mittlere BMI stieg von 25,9 im April bis August 2019 auf 26,4 im Vergleichszeitraum 2020. Für die Analyse wurden bundesweit rund 23.000 Menschen ab 15 Jahren telefonisch befragt. Auch eine kürzlich vorgestellte repräsentative Online-Umfrage des INSA-Consulere Instituts im Auftrag des Rundfunks Berlin-Brandenburg ergab einen Zusammenhang zwischen Lockdown und Gewichtszunahme: Rund 43 Prozent der Befragten aus Berlin und Brandenburg gaben an, während der Pandemie zugenommen zu haben – im Mittel um  5,5 Kilogramm.

Kein Problem nur der Erwachsenen

Auch Kinder sind infolge der pandemie-bedingten Beschränkungen – ausser von psychischen Störungen – von mehr Pfunden bedroht, was kaum wundern kann. Schul- und Vereinssport sind ausgefallen, der Schulweg ist auf die Strecke vom Bett zum heimischen Arbeitstisch reduziert, das Herumtoben auf ein paar Quadratmeter Wohnfläche. Betroffen sind vor allem Kinder sozial schwacher Eltern. „Das Risiko von Übergewicht und Fehlernährung steigt ganz besonders bei den Schul­kindern über zehn Jahren“, so der Münchener Ernährungsmediziner Professor Berthold Koletzko. So habe eine Forsa-Umfrage ergeben, dass 27 Prozent der Eltern und neun Prozent der Kinder unter 14 Jahren zwischen dem Lockdown im März 2020 und der Umfrage im September an Gewicht zugelegt haben. „Wenn man dann die sozioökonomische Schichtung anschaut, sieht man, dass Kinder aus Familien mit hohem Bildungsabschluss der Eltern wenig betroffen sind, aber dass eines von vier Kindern von Eltern mit Hauptschulabschluss eine Zunahme des Körpergewichts hat“, wird Koletzko im „Deutschen Ärzteblatt“ zitiert. Das sei eine sehr beunruhigende Beobachtung, zumal diese Kinder schon vor der Pandemie  ein höheres Risiko für Übergewicht und Adipositas gehabt hätten. Koletzko weiter: „Auf den hohen Ausgangswert kommt jetzt auch noch diese hohe Steigung.“ Hinzu kommt, dass die ohnehin bestehende soziale Kluft und die damit einhergehenden Folgen durch die Pandemie noch weiter verschärft werden, wie gerade aus einem Sozialbericht hervorgeht, den das Statistische Bundesamt gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung veröffentlicht hat.

Gegenmaßnahmen tun also not 

Eine Option, an der seit Jahren – leider mit überschaubarem Erfolg – geforscht wird, sind Arzneimitteltherapien zur Reduktion des Übergewichtes. Ein besonders hohen Stellenwert haben selbst die Wirkstoffe nicht gewonnen, die es geschafft haben, auf dem Markt zu bleiben. Die drei wichtigsten „Säulen der Gewichtsreduktion“ heißen, von operativen Eingriffen abgesehen, seit Jahren daher und wohl auch weiterhin „mehr Bewegung, veränderte Lebensweise und gesündere Ernährung“. Nun sind, wie berichtet, zwar erst kürzlich im „New England Journal of Medicine“ Daten zu dem Antidiabetikum Semaglutid erschienen, die bestätigen, dass auch dieser GLP-1-Rezeptor-Agonist in hoher Dosierung das Gewicht reduzieren und zudem kardiovaskulär relevante Stoffwechselparameter verbessern kann. Aber ob dieser Wirkstoff tatsächlich ein „Game Changer“ wird, wie es teilweise in manchen Medien hieß, darf etwas gehofft, aber -erfahrungsgeschwängert – noch mehr bezweifelt werden. Noch fehlen für eine endgültige Beurteilung allerdings viele Daten, etwa zu den Fragen, wie lange die Wirkung auf das Gewicht anhält und wie verträglich eine Langzeittherapie ist. 

Schwitzen ein Muss: also keine Gnade für die Wade!

Was also bleibt, sind schweißtreibende Tätigkeiten kombiniert mit etwas Askese bei kalorienhaltigen fleischlichen Genüssen und einer Reduktion der alltäglichen Behäbigkeit. Auch wenn es schwerfallen mag: Auf schweißtreibende Tätigkeiten, also sportliche Aktivitäten, wird kaum verzichtet werden können. Das Motto könnte lauten: Keine Gnade für die Wade! Denn eine „Reduktionsdiät allein bewirkt immer auch einen Verlust an Muskelmasse, welche aber als ‚Brennzelle’ für den Fettabbau benötigt wird”, erklären die Sportmediziner Thomas Thünenkötter und Axel Urhausen (Centre Hospitalier de Luxembourg–Clinique d’Eich und Luxembourg Institute of Research in Orthopedics, Sports Medicine and Science) in einem aktuellen Zeitschriften-Beitrag. 

Der Wirkmechanismus sportlichen Trainings in aller Kürze: Körperliche Aktivität erhöht durch vermehrte  Muskelarbeit den Energieverbrauch und zudem langfristig durch eine vermehrte Muskelmasse auch den Grundumsatz. Basis des Trainings sollte den Autoren zufolge erhöhte körperliche Aktivität im Alltag sein (z.B. häufigeres Stehen anstatt Sitzen, Treppensteigen, Gehen, Radfahren, Haus-/ Gartenarbeit). Wer hier konsequent sei, könne seinen Energieumsatz täglich um etwa 200 bis 300 kcal steigern. Hilfreich sei ein Schrittzähler mit dem Ziel, mindestens 10.000 Schritte pro Tage zu absolvieren (10.000 Schritte: Energieumsatz ca. 300 kcal).

Wichtig: die Kombination mit Krafttraining

Allein die Steigerung der täglichen Schrittzahl genüge jedoch nicht, erklären die Sportmediziner weiter. Notwendig sei es, Ausdauertraining mit Krafttraining zu kombinieren, um so den Muskelaufbau zu fördern und dadurch den Grundumsatz zu steigern. Dadurch werde es erleichtert, eine einmal erreichte Gewichtsreduktion zu stabilisieren. Intensives Krafttraining – zwei- bis dreimal 30 Minuten pro Woche – sei dafür adäquat. 

Wunder werden nur diejenigen erleben, die an Wunder glauben

Sport ist für eine Reduktion des Gewichts zwar unverzichtbar, reicht alleine aber kaum aus. Etwas Darben und mehr Dynamik im Alltag müssen auch sein. Denn nur mit Hilfe vermehrter körperlicher Aktivität an Gewicht zu verlieren, erfordere einen erheblichen Aufwand, so Thomas Thünenkötter und Axel Urhausen. Doch nicht jeder hat Zeit, Lust und genügend Leidensfähigkeit für regelmäßige Langstreckenläufe oder mehrstündige motorfreie Rennradtouren im Gebirge. Nicht jeder neigt zum Sportaholic. Der Kalorienumsatz durch sportliche Aktivität bei übergewichtigen Menschen werde meist deutlich überschätzt, wissen die beiden Sportmediziner. So sei für eine Reduktion von einem Kilogramm Körperfett mit Hilfe von körperlicher Aktivität ein zusätzlicher Kalorienumsatz von etwa 7000 kcal erforderlich. Ein 100 kg schwerer Mann müsse demnach, um ein Kilogramm Fettgewebe abzubauen, „ca. 23 Stunden Gehtraining (Kalorienumsatz ca. 300 kcal/h) durchführen!“ Um das Gewicht innerhalb von sechs Monaten um mindestens fünf kg zu reduzieren, sei „ein Mindestmaß an zusätzlicher körperlicher Aktivität mit ‚moderater‘ Intensität von ca. 250 min/Woche (= 4,2 h/Wo.) notwendig“, für die Gewichtserhaltung nach der Gewichtsabnahme seien „mindestens 30 Minuten tägliche  körperliche Aktivität (= 3,5 h/ Wo.) mit einem wöchentlichen Kalorienmehrumsatz von etwa 800- 1400 kcal“ erforderlich. Kurzum und frei nach Erich Kästner:  Wunder werden nur diejenigen erleben, die an Wunder glauben.